Sprechende Melone
: Obst und Empathie

Meine Kinder bissen sich panisch quiekend in die Faust

Ich hatte den Kindern eine schöne Wassermelone gekauft. Zu Hause kam mir der Einfall, ihnen die obligatorischen Anweisungen beim Reinkommen (Ausziehen, Hände waschen) mal ohne autoritären Druck zu übermitteln. Deshalb ließ ich die Melone sprechen. Ich verstellte einfach die Stimme und wackelte dazu ein bisschen mit der Frucht. Mit kinderfreundlichem Piepsen erreichte die runde Frucht, dass sich mein Nachwuchs ohne zu murren entkleidete, wusch und brav an den Tisch setzte. So reibungslos hatte ich diesen Vorgang noch nie herbeigeführt.

Weil auch meine Kleinen großen Spaß am Dialog mit dem „dicken Mädchen aus Obst“ hatten, alberte ich damit noch lange herum, ehe ich das große Messer holte. Plötzlich kam es über mich: Kurz bevor ich das Messer sausen ließ, gab ich im Ton der Melone ein flehendes Wimmern von mir: „Nein, noch nicht, bitte bitte!“ Und als die Klinge die gespannte Schale spaltete, entwich meiner Kehle ein langer unmenschlicher Schrei.

Das Gebrüll ließ nicht nach, als ich den Mund wieder schloss. Meine Verwirrung wich bald. Meine Kinder bissen sich panisch quiekend in die Faust. Was hatte ich getan? Es ist klar, dass sie seitdem keine Früchte mehr angerührt haben. Wenn sie jetzt, wo es kalt wird, aus Vitaminmangel erkranken, ist das meine Schuld. Es tut mir unendlich leid.

PS: Heute Abend habe ich beide dabei beobachtet, wie sie mit den Dillgurken sprachen. Es waren zärtliche Worte voller Mitgefühl. Als mein Junge mich bemerkte, packte er das Glas und drückte es schützend an sich. Dieses Zeichen von Empathie rührte mich. Es beweist, dass der Mensch im Grunde ein friedliches Wesen ist. Doch irgendwann muss man zur Besinnung kommen. Wenn er fest schläft, hol ich zumindest die Paprika unter seinem Kopfkissen hervor. Die Gurken und den Weißkohl soll er meinethalben noch ’ne Weile behalten. FELIX JENTSCH