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die taz vor 12 Jahren: zafer senocak über die cdu

Die CDU wird mehr und mehr zu einer janusköpfigen Partei. Der Spagat zwischen deutschnationalen Standpunkten und europäisch, modernistisch-liberaler Orientierung stellt die Partei Helmut Kohls vor eine Zerreißprobe. Zwei in diesem Jahr erschienene Bücher von CDU-Politikern, „Deutschland driftet“ von Friedbert Pflüger sowie „Und der Zukunft zugewandt“ von Wolfgang Schäuble, machen die Distanz zwischen beiden Positionen in der CDU besonders deutlich. Pflügers Liberalismus und seine Ablehnung deutschnationaler Tendenzen scheinen überholt, Schäubles Plädoyer für gesundes Nationalbewußtsein hingegen die Parole der Stunde zu sein. Ist die Schwächung liberaler Positionen nicht Ausdruck neuer konservativer, nationalistischer Gesinnung in Deutschland? Auch international weht den Befürwortern der offenen Gesellschaft und des Pluralismus ein immer kräftigerer Wind ins Gesicht. „Werteverlust“ in westlichen Demokratien ist ein beliebter Vorwurf einer weltweiten Koalition von Feinden der offenen Gesellschaft. Klage über den Verlust von Transzendenz eint rechtskonservative europäische Politiker wie Schäuble und Vertreter fundamentalistischer Politik in muslimischen Ländern. Tatsächlich befinden sich die offenen Industriegesellschaften in einer schwierigen Übergangsphase. Auflösungserscheinungen in der Gesellschaft werden von einer tiefsitzenden, auch materiellen Zukunftsangst begleitet. Die Schwäche der rechtsradikalen Parteien, trotz der günstigen ideologischen Konjunktur für ihre Gesinnung, geht einher mit der immer unkritischeren Übernahme ihrer Positionen durch Parteien, Politiker und Teile der Intelligenz, die im bürgerlichen Lager anzusiedeln sind. Nicht der Ruf nach Verboten für rechte Parteien stärkt die Demokratie, sondern die Attraktivität und Überzeugungskraft liberaler Grundpositionen. Meine Damen und Herren in der CDU, überlegen Sie es sich. Machen Sie sich nicht zu „nützlichen Idioten“ der konservativen Revolution! taz, 28. 9. 94

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