PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH
: Kohlen, Kartoffeln, Wachs und Wäsche

Bevor der Abrissbagger kommt und Omas altes Haus abreißt, werde ich hineingehen, die Augen schließen und riechen

Anders als Bilder oder Töne lassen sich Gerüche nicht in Erinnerung zurückrufen. Ich versuchte es immer wieder, schloss vor meinem inneren Auge die Türe zu Großmutters Haus in der Altstadt auf und ging hinein in den dunklen Flur. Die knarzende Holztreppe hinauf in den zweiten Stock, wo ich sie sogar stehen sehen konnte, lächelnd in ihrer blauen Kittelschürze.

Ich konnte mich an alles erinnern, nur nicht an den Geruch. Aber hätte ich ihn noch einmal blind gerochen, ich hätte den Ort meiner Kindheit sofort wieder erkannt. Gerüche haben im Hirn ihre eigene kleine Schatzkammer: Sie ist abgeschlossen. Auch Träume sind geruchsfrei.

Das Haus mit der Nummer 24 in der Reutlinger Metzgerstraße gehörte zu den größten Wohnhäusern der Innenstadt. Ein mächtiger Giebel teilte das Gebäude in zwei Hälften, in denen jeweils zwei Familien auf jedem der zwei Stockwerke Platz fanden. Wenn man durch die große Eingangstür hinein trat, roch es ein wenig feucht nach dem Gewölbekeller, in dem die Bewohner neben Kohlen auch ihre Kartoffeln lagerten und vor dem wir Kinder uns immer ein wenig fürchteten. Eine mit Wachs gebohnerte Treppe führte hinauf zu den Wohnungen.

Wer Oma Emma besuchen wollte, musste nach dem Klingeln warten, bis sich das Fenster zur Straße öffnete und die grauhaarige Frau in einem wattierten Umschlag den großen eisernen Haustürschlüssel herunterwarf. Elektrische Türöffner waren beim Bau dieses Stadthauses im 19. Jahrhundert noch nicht bekannt und zum Renovieren fehlte Oma nach dem Krieg das Geld. Lieber vermietete sie die Wohnungen billig an Flüchtlinge aus den Ostgebieten. Pommerenke stand an den Klingelschildern, Pipke und Kirsch. Sie bezahlten niedrige Mieten und hatten hohe Meinungen voneinander.

Ein eigenes Badezimmer hat Oma nie besessen. „Das“ erledigte man in der Küche am Schüttstein oder eben in der Waschküche im Erdgeschoss, wo sich die Hausbewohner samstags den Zuber aus Zinkblech teilten. Das Wasserklo am Ende eines langen dunklen Ganges war die letzte Modernisierung im ganzen Gebäude: Man zog an einer Messingkette, an deren Ende eine Porzellankugel befestigt war – dann schoss zur Freude von uns Kindern das Wasser aus zwei Meter Höhe wie ein Wasserfall in die Schüssel. Wir Kinder halfen Oma häufig die in der Waschküche gewaschene Wäsche die vielen Treppen auf den „Platfond“ hinauf zu tragen, eine Dachterrasse aus Blech. Von dort sah man über die ganze Altstadt, und aus den Nachbarhäusern rief oftmals jemand auf Schwäbisch etwas herüber, was meist ungefähr so klang: „So Emma duscht du au dai Wesch uffhenga.“

Als das Haus nach ihrem Tod an einen schwäbischen Handwerker verkauft wurde, konnte man nicht viel verlangen. Er bekam es billig, und ich lief in den Folgejahren häufig an dem Gebäude vorbei, in der Hoffnung, dass nun aus dem etwas heruntergekommenen Haus bald wieder ein Schmuckstück der Altstadt würde. Dass der neue Besitzer vielleicht das Fachwerk freilegen oder aber zumindest den grauen Putz erneuern würde. Stattdessen änderten sich die Namen an den Klingelschildern: Aus Kirsch wurde Aydin und statt selbst gebastelter Weihnachtssterne hingen elektrisch blinkende Lämpchen in den Fenstern. Die Risse an manchen Stellen der Hausfassade wurden allmählicher größer, und hier und dort blätterte der Putz in großen Platten ab.

Als ich vor ein paar Tagen wieder einmal vorüberlief, war der Eingang zu Omas Haus mit Brettern vernagelt. Eine Immobilienfirma bot das Gebäude auf einem Plakat zum Kauf an.

An den Fenstern zu Omas Wohnung hingen noch die vergilbten Gardinen der letzen Bewohner, als schämten sich die Fenster, den Blick freizugeben in eine leere Geisterwohnung. Jemand wird es kaufen und abreißen. Wird ein modernes Ärztehaus oder einen Schnäppchenmarkt darin unterbringen. Beste Lage, Innenstadt.

Bevor der Abrissbagger kommt, werde ich noch einmal hineingehen, die Augen schließen und riechen.

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