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Archiv-Artikel

EIN VATER KLAGT IN GROSSBRITANNIEN, DASS SEIN SOHN VON KLASSENKAMERADEN „FARBIG“ GENANNT WIRD. HEUL DOCH! IN DEUTSCHLAND REDEN SELBST LEHRER SO Auf der Kirmes trainiert fürs Leben

VON JULIA GROSSE

TRENDS UND DEMUT

Meine Freundin, gebürtige Kongolesin, die im Alter von elf Jahren nach Deutschland kam, hatte das größte und gescheiteste Mundwerk des Ruhrgebietes. Wie ich fühlte auch sie sich in regelmäßigen Abständen magisch hingezogen zu Veranstaltungen und Orten der Prollkultur. Wir liebten die Kirmes, den Marktplatz stereotyper, rassistischer Bräuche, und immer, wenn wir am Süßwarenstand einen „Eis-Neger“ wollten, salmonellenhaltiges Softeis mit Schokosauce, schrie meine Freundin der fülligen Verkäuferin entgegen: „Guten Tag! Einen Eis-Nazi, bitte!“

Es war eine Mutprobe und jedes Mal der Höhepunkt unseres Aufenthalts. Wir machten aus dem rassistischen Stumpfsinn kurzerhand noch stumpfere Performancekunst. In Teenie-Agitprop waren wir irgendwann richtig gut, denn unsere mittelgroße Stadt war voll von diesen fremdenfeindlichen Stilblüten.

Als ich mit neunzehn durch die Fußgängerzone schlurfte, fragte mich eine Verkäuferin von Abonnements der regionalen Westdeutschen Zeitung strahlend: „Sie sprechen Deutsch? Deutsch lesen vielleicht sogar? Interessiert an einem Abo der WAZ?“ „Nein, fällt mir schwer zu lesen“, war meine Antwort, und die war nicht mal gelogen. Es fiel mir tatsächlich schwer, die WAZ zu lesen, weil ich sie schlicht unerträglich fand.

Dass ich dort zu dem Zeitpunkt auch noch ein Praktikum absolvierte, habe ich erst gar nicht erwähnt. Es war mir einfach zu anstrengend, dieser furchtbar harmlosen Dame mitten am Tag einen kleinen Exkurs in Rassismustheorie zu geben. Heute würde ich ihr den Exkurs wahrscheinlich dezidiert und charmant lächelnd reindrücken.

Kürzlich las ich in der britischen Sunday Times eine Titelgeschichte, die sich dem Thema Rassismus in England widmete. Der Autor erzählte, wie es sich anfühlt, als Weißer mit einer schwarzen Britin und vier gemeinsamen Kindern die turbo-tolerante Metropole London hinter sich zu lassen und aufs englische Land zu ziehen. Der Mann heulte sich auf sechs Seiten aus. Aber so richtig. Er klagte, dass Leute die krausen Haare seiner Tochter lustig finden. Oder, dass sein Sohn von einem Klassenkameraden „farbig“ genannt wurde. Heul doch! In Deutschland benutzen dieses Wort selbst die Lehrer! Und fühlen sich besonders emanzipiert, weil sie endlich eine Alternative zu „Mulatte und Co.“ gefunden haben.

Ich las den Artikel durch und hatte den Eindruck, hier erzählt Spongebob von seinen Comic-Problemen. Dabei weiß dieser Autor gar nicht, wie verwöhnt er ist! Eingebettet in eine britische Kultur, die durch die eigene Kolonialgeschichte ein geradezu sensibilisiertes Vokabular in den Köpfen der Briten installieren konnte. Die Extralight-Diskriminierungen, von denen der Autor nun in seinem Kaff klagte, passieren Deutschen mit Migrationshintergrund in jeder größeren deutschen Stadt jeden Tag! Der Gute sollte mit seiner ganzen Familie einmal zu uns kommen. Und da muss es noch nicht einmal gleich Stralsund oder Chemnitz sein. Berlin-Mitte reicht schon.

Mitten im liberalen Berliner Wellnessparadies, dem Weinbergspark, beobachtete ich kürzlich einen kleinen Jungen, der ein afrodeutsches Mädchen mit „Du bist eine Negerin!“ beschimpfte. Und der Vater? Stand daneben in seinem frisch gebügelten FC-St.-Pauli-Kaputzenpulli und las die SZ! Diese Situation war gruseliger als jeder Horrorfilm. Denn immerhin befand man sich im Epizentrum der Toleranz. Toleranter als hier wird’s nicht. Wer hatte dem Kleinen in diesem liberalen Umfeld überhaupt gesteckt, dass es dieses Wort gibt? Unser britischer Autor hätte den St.-Pauli-Vater wahrscheinlich direkt am Kapuzenpulli vor Gericht gezerrt. Und ein schwarzer Brite, der in London von Abo-Damen angesprochen wird, ob er Englisch spreche, würde höchstens entgegnen: „Geht so. Ich komme aus Wales.“

■ Julia Grosse ist taz-Kulturreporterin in London