: Selbst Gott fällt Onkel in den Rücken
BERLINER ENSEMBLE Mitfühlen und mitdenken ist entscheidend in Philip Tiedemanns Inszenierung von George Taboris „Die Kannibalen“. In einem kargen Bühnenbild malen die Schauspieler das Notwendige auf den Boden
VON LISA MAUCHER
Ein schwaches Pfeifen erklingt. Langsam wird der rote Vorhang weggezogen. Nebel bedeckt die sonst leere Bühne. Immer mehr schwarz gekleidete Menschen schlüpfen unter der schiefen, steinernen Bühnenfläche hervor, sie zeichnen mit Kreide weiße Linien auf die Platte ein. Der Raum wird von diesem Kratzen, das die Raumkonstellation abbilden wird, erfüllt.
Das Berliner Ensemble, das den Brecht’schen Theateridealen folgt, will mit dem Stück „Die Kannibalen“ durch den Gestus des Zeigens aufrütteln und zur Reflexion anregen. Dieser Grundgedanke passt zu dem Stück, das der 1914 in Budapest geborene jüdische Autor George Tabori geschrieben hat. 1936 konnte er vor der Verfolgung der ungarischen Juden durch die Nationalsozialisten nach London fliehen, sein Vater wurde aber in Auschwitz ermordet. Bis zu seinem Tod vor sieben Jahren hielt er an einem Theater fest, das gegen das Vergessen arbeitete, auch mit vielen Inszenierungen am BE.
„Die Kannibalen“ ist dennoch kein Stück, das auf eine wütende oder verzweifelte Art und Weise mit dem Nationalsozialismus abrechnet. Vielmehr geht es auf die darunter leidenden Menschen ein: darauf, wozu sie fähig sind, wenn sich die gewohnten Umstände ändern. Und auf die Frage, ob die Definition von Moral statisch ist. Dabei nimmt Tabori die Situation im Konzentrationslager als Spielfeld für eine Ausnahmesituation, für ein menschliches Experiment.
Leise Polka-Musik ertönt, neun Schauspieler stehen in den Kostümen von KZ-Häftlingen verloren da und lauschen wortlos. Die Musik wird lauter, bis sie plötzlich von der Sirene scharf abgeschnitten wird. Ein direkter Blick trifft das Publikum. Nächste Szene. Man hört ersterbende Stimmen nach ihren Leibgerichten rufen. Das Ensemble steht aufrecht in seinen eingezeichneten Rechtecken, die fiktiven Betten bedeuten, sie spielen stehend, wie sie schlafen, sich winden, sich quälen.
Puffi (Detlef Lutz) wacht auf und schleicht heimlich in ein Eck, um Brot zu essen. Es ist hart, es kracht. Davon wach geworden, treibt die anderen der Hunger zu Puffi, sie überwältigen ihn, letztendlich töten sie ihn. Homo homini lupus. Wieder ein direkter Blick, der wie ein Pfeil in das Publikum schießt. Der Einzige, der nicht handelt, ist Onkel, die moralische Instanz der KZ-Häftlinge. Doch Moral zählt nicht mehr, wenn Hunger den Verstand benebelt. „Die Friedhöfe sind voller Leckerbissen“, sagt Hirschler (Axel Werner), der Onkel vom Kannibalismus überzeugen will. Währenddessen wird der Bauch des Toten wie der eines Tiers markiert und das Messer herumgereicht. „Sei doch vernünftig“, hört Onkel. Doch Moral basiert nicht nur auf Verstand. Sie ist in das Herz eingebrannt.
Die Figuren nennen einzeln ihre Rolle und skizzieren im Verlauf der Handlung in der dritten Person ihren Charakter in einem kurzen Monolog. Sie verlassen mehrfach ihre Rolle und Situation, um den Vorgang des Erinnerns zu thematisieren. Manchmal werden Regieanweisungen ausgesprochen und Handlungen nur angedeutet – den Rest muss sich der Zuschauer denken. Diese Verfremdungseffekte haben einen großen Einfluss darauf, wie das Publikum dieses Stück rezipiert. Es ist beobachtend und handelnd, passiv und aktiv zugleich. Der Effekt, dass der Zuschauer manchmal nicht weiß, ob er lachen oder weinen soll, löst tiefer gehende Wirkungen aus als eine gewohnte Präsentation grausamer Details, die der Zuschauer nicht verarbeiten kann. Das Berliner Ensemble weiß unter der Regie von Philip Tiedemann mit Taboris Stoff umzugehen und ihn so an das Publikum heranzuführen, dass es versteht und mitdenkt.
Onkel (Martin Seifert), der durch sein exaltiertes Spiel, seine vielfältige Mimik und sein Stimmenspiel auffällt, wendet sich an Gott, der hinter dem vorgezogenen Vorhang als riesige Schattenfigur erscheint. Währenddessen kocht Puffis Körper im Topf, die Münder des Ensembles formen ein „Blubb“. Gott erklärt Onkel, dass er niemals gesagt habe, dass Kannibalismus verboten sei. Selbst Gott fällt Onkel in den Rücken.
Am Ende werden nur zwei der insgesamt neun KZ-Häftlinge die Leiche essen. Schrekinger, der Engel des Todes (Ursula Höpfner-Tabori), wird sie dazu zwingen und die anderen in die „Dusche“ schicken. Als der Applaus erklingt, sieht die Witwe George Taboris sichtlich mitgenommen aus. Das ganze Ensemble hat sich in diesem Stück, das viele originelle, dynamische Szenen zeigt, verausgabt. Was von „Die Kannibalen“ bleibt, ist der Gedanke, dass Menschen zu allem fähig sind. Und dass man sich das immer wieder in Erinnerung rufen sollte. Theater gegen das Vergessen.
■ Vorstellung am 2. 4., 5. 4., 20. 4., 2. 5, jeweils 19.30 Uhr, am 20. 4. um 19.00 Uhr