: Doppelagenten der Erinnerung
Vom vergeblichen Versuch, das Ende des Krieges zu filmen: In den Archiven von Walid Raad/Atlas Group geht es um die Omnipräsenz der Gewalt und die Unmöglichkeit ihrer Abbildung. Im Hamburger Bahnhof wird das Projekt vorgestellt
VON GLORIA ZEIN
Aus der Luft sieht das Mittelmeer wie eine leicht bewegte Palette von Blauschattierungen aus. Daraus lassen sich einzelne Nuancen extrahieren, um eine systematische Reihung der Meeresfarben zu gewinnen. 29 solcher monochromer Farbtafeln wurden erstaunlicherweise 1993, während der Abrissarbeiten in Beiruts kriegszerstörten Geschäftsvierteln aus dem Schutt geborgen. Noch erstaunlicher ist, dass eine chemische und digitale Analyse im Blau des Wassers darin verborgene Gruppenporträts enthüllte. Wie sich später herausstellte, handelt es sich hierbei um Personen, „die zwischen 1975 und 1991 ertrunken, gestorben oder tot im Mittelmeer aufgefunden worden waren“.
Diesen außerordentlichen Befund stellt die 1999 von Walid Raad gegründete Atlas Group derzeit im Hamburger Bahnhof vor. Mit ihrem Archiv ergänzt sie die „offizielle“ geopolitische Geschichtsschreibung des aktuellen Libanon um verwirrende, zum Teil mysteriöse Details.
Der Zoom auf das Mittelmeer ist charakteristisch für die Atlas Group. Die Bedeutung solcher Perspektiv- und Maßstabswechsel hat bereits 1967 der Mathematiker Benoit Mandelbrot in seinem Text über die Problematik der Vermessung einer Küstenlinie beschrieben. Dieser erkannte, dass die Bestimmbarkeit ihrer Länge von spezifischen Parametern abhängt, unter anderem von dem Maßstab der verwendeten Karte: Je näher der Blick, desto größer ist die Anzahl zu vermessender Felsvorsprünge; mit der Detailfülle wächst die Länge der Küstenlinie. Da jede Maßangabe einem vorangegangenen Abstraktionsprozess entspricht, werden Kategorien wie „wahr“ und „falsch“ relativiert.
Solchen Begriffen misstraut auch Walid Raad. Mit der Archivierung und Präsentation gesammelter und hergestellter Dokumente zu den Bürgerkriegen im Libanon zwischen 1975 und 1990/91 imitiert und dekonstruiert seine Atlas Group die vereinfachende Fixierung historischer Ereignisse. Die Unmöglichkeit, mit einer Beschreibung das Ereignis selbst jemals ganz zu treffen, ist ein zentrales Thema des 1967 im Libanon geborenen und im Alter von 17 Jahren nach New York emigrierten Künstlers.
Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert seine Schilderung (fiktiver) Sonntagswetten libanesischer Historiker. Statt auf ein Siegerpferd zu setzen, spielten diese um die zeitliche Verzögerung, mit der der Rennbahnfotograf den Gewinner beim Zieleinlauf erwischen würde. Tatsächlich verfehlt jedes der dokumentierten Zeitungsbilder die Überquerung der Zielgeraden.
Hat man einmal erahnt, dass einige der Personen und Ereignisse fingiert sein dürften, schleichen sich Zweifel bei der Betrachtung jeder Arbeit ein: Behördliche Stempel auf den Rücken historischer Fotografien, Recherchen zu Pkw-Modellen detonierter Autobomben, Erfahrungsberichte einer ehemaligen Geisel und die Erwähnung von Doppelagenten, die sich an Beiruts Strandmeile getroffen haben sollen – darf man das alles glauben?
Doch je tiefer man in das Archiv der Atlas-Group eintaucht, desto mehr verliert sich das (angelernte?) Bedürfnis nach Klarheit, verlässlichen Statistiken und vermeintlicher Neutralität einer ordnenden Geschichtsschreibung. Raads gruppierte Dokumente widmen sich dem Alltag in einem Bürgerkriegsland. Gerade durch Verzicht auf eine illustrierende Darstellung der Gewalttaten evozieren sie einen Eindruck vom Leben mit dem omnipräsenten Krieg. Die keine Minute dauernde Videoarbeit „Miraculous beginnings“ zeigt eine rasende Folge von Einzelbelichtungen, die Fadl Fakhouri mit seiner Super-8-Kamera immer dann aufnahm, wenn er den Krieg für beendet hielt: Blumen, zerstörte Straßenzüge Beiruts, eine Küchenszenerie, ein Sonnenuntergang.
Ob die hier vorgestellten Zeitzeugen tatsächlich existierten, die Dokumente ge- oder erfunden wurden, wird nebensächlich: Denn die Bilder und Geschichten der Atlas Group (deren Datierung, Anzahl, Herkunft und Form Walid Raad für jede Ausstellung neu festlegt) stimulieren Erinnerung. Wiederholt konstruieren sie Auslassungen und damit individuelle Assoziationsräume. So habe etwa Lamia Hilwé dem Archiv über 900 (!) Tafeln mit bearbeiteten Fotos Beiruter Hausfassaden übergeben – eine Auswahl von etwa 20 wird im Hamburger Bahnhof gezeigt.
Das (vermeintliche) libanesische Entführungsopfer Souheil Bachar wiederum soll nach seiner Freilassung 53 Videobänder mit Erfahrungsberichten produziert haben. Doch nur zwei davon hat er zur Veröffentlichung außerhalb des Libanon freigegeben. Den Inhalt der fehlenden Dokumente produziert der Besucher dieses Archivs unwillkürlich selbst – solange er nicht in die Gewohnheit zurückfällt, in den heimischen Geschichtsbüchern nachzublättern, wie es „wirklich“ war.
The Atlas Group (1989 bis 2004). A Project by Walid Raad, bis 7. 1. 2007, Hamburger Bahnhof, Di.–Fr. 10–18 Uhr, Sa. 11–20 Uhr, So. 11–18 Uhr. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln