: Die Sitzerin vom Prenzlauer Berg
Das Wahrheit-Porträt: eine Begegnung mit der Caféhaus-Füllerin Ilka von Minkewitz
Zunächst hatten wir sie gar nicht wahrgenommen, und erst später wurde uns bewusst, dass wir sie schon oft, sehr oft hatten dasitzen sehen. Im Sommer umgeben von den Strahlen der Sonne, im Winter gewärmt von einem Heizpilz, immer saß sie in einem Straßencafé, mal hier, mal dort. Ein Detail machte uns schließlich sicher, dass es sie es war: die gelbe Rosenklammer, mit der sie ihr blondes Haar hochgesteckt hatte.
Ilka von Minkewitz ist Sitzerin. Cafésitzerin. Sie füllt durch ihre bloße Anwesenheit Straßencafés und andere Lokale. Sie ist nicht auffällig gekleidet und eher ein Durchschnittstyp. Für Männer ist sie ein unbewusster Augenfang, für Frauen eine beinahe unsichtbare gute Freundin.
Wir sind Ilka mit etwas Abstand gefolgt, und nachdem sie sich ein wenig gesträubt hatte, dürfen wir sie nun bei der Arbeit beobachten. Sie hat sich hingesetzt. Allein. Aber allein wird sie nicht lange bleiben. Obwohl es erst zehn Uhr morgens ist und das Café gerade erst geöffnet hat, dauert es keine zehn Minuten, bis sich an den Nachbartischen Gäste niederlassen.
Hier im Prenzlauer Berg hat es eigentlich kein Lokal nötig, eine Sitzerin zu verpflichten, zumindest in der Kastanienallee. Viele Touristen und Einheimische sind bereits unterwegs und besuchen die Cafés. Aber manche Besitzer vertrauen auf die konstanten Leistungen einer Sitzerin, die ihnen kalkulierbare Einnahmen beschert.
„Du musst gutes Sitzfleisch haben“, antwortet Ilka auf die Frage, ob es bestimmte Voraussetzungen für ihre Arbeit gibt. „Kein empfindlicher Magen, keine schwache Blase. Ich trinke am Tag so zwölf Tassen Kaffee. Und Sekt oder Wein“, erklärt Ilka. Die Getränke gibt meist der Café-Besitzer vor. Von ihm lässt sich Ilka zuerst den Auftrag quittieren und kassiert dann vorab das Honorar für die Doppelstunde. Das ist so üblich. Zwei Stunden für 25 Euro sind der Tarif – plus Spesen.
„Eine fleißige Sitzerin kann gut und gerne bis zu 3.000 Euro im Monat verdienen“, sagt Edgar Ickler von der Agentur „Sit To Go“. Ickler wird „Eddie, der Igel“ genannt, weil er eine leuchtend rote Igelfrisur spazieren trägt und auch ansonsten ein heller Kopf ist. „In New York gibt es Sitzer schon seit bestimmt 100 Jahren, aber hier bin ich vor circa zehn Jahren darauf gekommen.“ Rund 40 Sitzerinnen arbeiten für Icklers Agentur in ganz Berlin. Immerhin gibt es in der Hauptstadt ein paar tausend Cafés. Damit sich die Kolleginnen nicht in die Quere kommen, hat „Sit To Go“ einen Gebietsschutz verfügt. Der auch penibel eingehalten wird von allen Mitarbeiterinnen. Jede Sitzerin hat ihr angemeldetes Revier. Wie er an sein Fachkräfte kommt, fragen wir Ickler. „Mein Adlerauge“. Ickler legt eine Zeigefingerspitze an seine rechte Wange und zieht die Haut unter dem Auge nach unten. „Ich bin viel unterwegs und sehe mir Frauen in Cafés an.“ Und männliche Sitzer? Ickler schüttelt resigniert den Kopf. „Ich hab’s versucht. Aber ich weiß auch nicht genau, warum das nicht läuft. Das ist ein echtes Frauending.“
Es gibt Naturbegabungen wie Ilka, meint Ickler, der sie ansprach, als sie noch einem langweiligen Bürojob nachging und ihre Freizeit in Straßencafés verbrachte. Den Bürojob hat die 27-Jährige längst aufgegeben. „Ich hab’s sofort gesehen. Ilka saß allein da und war doch ständig umringt von Frauen und Männern. Das ist wichtig! Es dürfen nicht nur Männer sein. Dann läuft was falsch. Eine Sitzerin muss fast unsichtbar sein. Und ganz wichtig: keine Tatoos! Nur Nutten haben Tatoos!“, poltert Ickler.
„Sicher gibt es Tricks“, nickt Ilka und beschreibt, wie sie Gäste in ein Café hineinzieht. „Kennen Sie diese Bücher, die jetzt überall auftauchen? Über Männer und Frauen: ,Wie Frauen funktionieren‘ oder ,Was Männer über Frauen wissen sollten‘ oder so ähnlich. Alles Quatsch!“, meint Ilka. „Darin steht dann: ,Wenn Frauen in einem Lokal sitzen und mit dem Fuß wippen, wollen sie Sex‘. Das lesen Männer und glauben es. Und weil Männer so was glauben, kann ich es benutzen. Also manchmal lasse ich nur so zum Spaß den Fuß fünf Minuten wippen, und schwupp! – ist der Laden voll.“
Ob sie denn schon mal Probleme mit Männern bekomme, wollen wir wissen. „Nie!“, sagt Ilka selbstsicher. „Aber manchmal hätte ich sie sogar ganz gern“, grinst sie. „Ich durchschaue Männer einfach viel zu gut, die merken das, und deshalb habe ich nichts zu tun mit Männern.“
Ist das ein Geheimnis ihres Erfolgs: ihre Selbstsicherheit? „Ach was!“, winkt Ilka ab, zu viel hineininterpretieren will sie nicht in ihre Arbeit. „Ich verrate Ihnen mein Geheimnis. Eigentlich weiß es nicht mal Eddie, der Igel. Ich habe schon mal im Gefängnis gesessen. Ein Jahr. Ich bin da in was reingerutscht. Kinkerlitzchen. Nur das Gericht sah das nicht so. Aber das Jahr abzusitzen, war die beste Schule für meine Arbeit“, seufzt Ilka und blickt sich um. Das Café ist inzwischen gut gefüllt.
„So früh im Café zu sitzen, widerspricht eigentlich meinem preußisch-protestantischen Arbeitsethos“, sagt Ilka, die ihre gutbürgerliche Herkunft als eine von Minkewitz nicht verleugnen kann. „Ich bin aber auch gut als Schlampe“, behauptet sie. Was sie denn in ihrer Freizeit macht? Einsam durch Wälder joggen? Ilka gluckst und erzählt dann von ihrer Band: „Hoxxx. Wir machen Speed-Metal. Ich bin die Gitarre.“ Die Songs schreibt sie während der Arbeit im Café. „Das ist übrigens mein Trick, um Frauen anzulocken: Ich setze mich ins Café und hole eins von diesen scheußlichen schwarz-roten Notizbüchern raus. Keine zehn Minuten später sind alle Tische um mich herum mit Frauen besetzt. Wenn Frauen nämlich sehen, dass eine andere Frau im Café was schreibt, läuft in ihrem Kopf immer der gleiche Film ab: Die schreibt Gedichte; die kann schreiben; schreiben können ist toll; ich will auch schreiben können; eigentlich bin ich Künstlerin; einen Milchkaffee und einen Croissant bitte …“
Sie muss weiter, zum nächsten Auftrag, in ein neues Café. Ihre Rastlosigkeit treibt sie voran. Oder ist es der Kaffee? Ständig scheint Ilka von Minkewitz auf der Suche zu sein. Nur was sie sucht, das weiß sie bislang selbst noch nicht. MICHAEL RINGEL