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Archiv-Artikel

Kurs auf das Horrorszenario

KLIMA Der IPCC-Bericht warnt vor Gefahren für Ökosysteme und Menschen. Auf Druck von Regierungen hält er sich aber zurück

Eis und Permafrost

■ Das Eis in der Arktis und das gesamte daran hängende Ökosystem sind besonders bedroht. Abrupte massive Eisschmelzen bei Überschreiten des „tipping point“ werden bei einem Temperaturanstieg von über 3 Grad wahrscheinlicher. Die Gletscherschmelze schreitet fort – in Island und den Alpen, in den Anden, Neuseeland, in Asien und in Afrika, zum Beispiel auf dem Kilimandscharo. Das gefährdet auch die Wasserversorgung der Talbewohner. In den Hochebenen und den Bergen Zentralasiens und Tibets sowie in Sibirien taut der Permafrostboden. Das darin gespeicherte CO2 wird frei und gelangt in die Atmosphäre.

VON BERNHARD PÖTTER

Wasser und Dürre

■ Wasser wird es immer häufiger entweder zu viel oder zu wenig geben: Zunehmende Überschwemmungen durch Extremwetter und steigende Meeresspiegel zerstören die Lebensgrundlage von Menschen, die an Küsten oder Flussgebieten siedeln. Sturmfluten wie in diesem Winter in Großbritannien führen zu Küstenerosion. Einige Länder werden dadurch von ihrem Bruttoinlandsprodukt einbüßen. In den trockenen subtropischen Regionen wird Wasser noch knapper. Aber auch in anderen Regionen nimmt extreme Hitze lebensbedrohliche Ausmaße an – besonders für die Stadtbevölkerung und Menschen, die draußen arbeiten.

Dem Abschlussbericht zum Klimawandel haben die beteiligten Regierungen einige Zähne gezogen: Viele Formulierungen sind deutlich abgeschwächt. So fällt unter den Tisch, dass viele Staaten mit ihren Anpassungsmaßnahmen weit hinter den Zielen zurückbleiben; harte Zahlen zu Opfern („Hunderte von Millionen Menschen an den Küsten bedroht“) sind verschwunden. Warnungen zu Ernteausfällen wurden relativiert, die mit Zahlen belegte Kritik an der Unterfinanzierung der Anpassung taucht nicht mehr auf und ein Absatz zum klimapolitischen Irrsinn der Biotreibstoffe ist ganz verschwunden.

Und doch, die Wissenschaftler nahmen kein Blatt vor den Mund: „Wir sind alle leichte Beute“, warnte am Montag der US-Geowissenschaftler Michael Oppenheimer, einer der Leitautoren des IPCC-Berichts. „In vielen Fällen sind wir auf die Risiken des Klimawandels nicht vorbereitet“, pflichtete ihm Vicente Barros bei, der argentinische Meteorologe und Chef der Arbeitsgruppe „Anpassung“. Und Saleemul Huq, Wissenschaftler aus Bangladesch und IPCC-Autor, zog ein bitteres Fazit: „Die Dinge stehen schlechter, als wir sie 2007 vorhergesagt haben.“

Ökosysteme an Land

■ Unter allen untersuchten Szenarien ist ein großer Teil der Arten, die im Land- und Süßwasser leben, gefährdet. Verstärkt wird die Bedrohung noch durch das Zusammenspiel mit Stressfaktoren wie Raubbau, Verschmutzung und invasive Arten. Der Verlust landbasierter Ökosysteme gefährdet die Lebensgrundlage Tausender Menschen, auch weil diese Ökosysteme im Moment 25 Prozent des CO2-Ausstoßes absorbieren. Waldbrände in Portugal und Griechenland häufen sich dadurch. Die Bestäubung von Pflanzen, von der Ökosysteme und Nahrungserzeugung abhängig sind, könnte auch darunter leiden.

Das lässt sich aus der knapp 50 Seiten starken „Zusammenfassung“ herauslesen, die die Arbeitsgruppe II des IPCC am Montag im japanischen Yokohama präsentierte. Nach vier Jahren der Vorarbeit durch über 300 Leitautoren aus 70 Ländern wurde der Bericht in einer Woche zähen Ringens mit Regierungsvertretern aus den UN-Staaten abgestimmt. Herausgekommen ist ein Bericht, der zwar zahmer ausfällt als der Entwurf der Wissenschaftler, aber trotzdem noch genug Grund zum Gruseln lässt.

Ökosysteme im Meer

■ Marine Arten verlagern wegen der Erwärmung der Meere ihren Lebensraum. Einige Arten sind durch den Klimawandel schon ausgestorben. Dies wird zunehmen: Die Auswirkungen natürlicher Klimaveränderungen in den letzten Jahrmillionen waren schon durchschlagend, und die verliefen viel langsamer als der derzeitige Wandel. Mit den marinen Arten geht auch die Grundlage der von Fischerei abhängigen Gemeinschaften in den Tropen und der Arktis verloren. Ozeane absorbieren CO2 und werden dadurch immer saurer. Das beeinträchtigt unter anderem Arten mit Kalkskeletten oder -schalen, die dadurch brüchig werden.

So stellen die Forscher und Regierungen nicht nur fest, welche gravierenden Auswirkungen der Klimawandel bereits heute hat, wo die Temperatur seit dem 19. Jahrhundert im Schnitt erst um knapp ein Grad gestiegen ist (siehe Karte). Die Autoren blicken mit großer Sorge in die Zukunft: Sie sehen Risiken für das Leben und die Gesundheit der Menschen durch Überflutungen, steigenden Meeresspiegel in Megastädten an den Küsten, Hitzetote, „systemische Risiken“ durch den Ausfall der Wasser- oder Stromversorgung oder den „Zusammenbruch von Ernährungssystemen“, etwa durch Dürre oder Überschwemmungen. „Hoch bis sehr hoch“ sind demnach auch die Gefahren für ein großes Artensterben oder für unkontrollierbare Entwicklungen wie das Auftauen der Permafrostböden, wenn bis 2100 die Temperatur um 4 Grad Celsius anstiege – ein Horrorszenario, auf das die momentanen Emissionstrends aber zusteuern.

Gesundheit und Lebensgrundlagen

■ Der Klimawandel hat vor allem einen Effekt: Bereits existierende Gesundheitsprobleme und -gefahren verschärfen sich. Dazu gehören Hitzewellen, auch in Europa und Nordamerika, sowie Mangelernährung. Auch durch Wasser und Nahrungsmittel übertragene Krankheiten werden zunehmen. In einem Szenario wären im Jahr 2100 in manchen Regionen zu bestimmten Jahreszeiten normale Aktivitäten nicht mehr möglich, zum Beispiel Arbeit im Freien. Die Preisstabilität von Nahrungsmitteln ist in fast allen Regionen gefährdet. Risiken für die Ernährungssicherheit sind in niedrig gelegenen Regionen generell größer.

Nahrungsmittelproduktion

■ Negative Effekte auf die Ernte sind häufiger als positive. Während einige höhergelegene Gegenden vom Temperaturanstieg profitieren und höhere Ernteerträge bei Weizen, Reis, Mais und Soja erzielt werden, gehen die Erträge in den meisten Regionen um bis zu 25 Prozent zurück. Nach 2050 wird sich dieser Trend noch verstärken. Generell werden die Erträge im Jahresvergleich stärker schwanken. Temperaturen über 30[o] C – in Deutschland durchaus üblich – haben einen negativen Einfluss auf den Ernteertrag. Ein erhöhter CO2-Gehalt der Atmosphäre vermindert den Nährwert von Feldfrüchten und Futtermitteln.

Im Vergleich zur letzten Ausgabe von 2007 ist auch die jetzt vorgestellte Studie über „Anpassung“ wesentlich besser mit Daten unterlegt, die Zahl der einschlägigen Studien habe sich verdoppelt, heißt es. Zum ersten Mal haben die Forscher auch andere Faktoren als die Naturwissenschaften berücksichtigt. So warnen sie nun auch vor steigenden Preisen für Nahrungsmittel, sie weisen auf die Wechselwirkung von Klimawandel, Konflikten und Migration hin und warnen, gefährdet seien besonders arme und marginalisierte Personengruppen, die auch „auf der Basis von Geschlecht, Klasse, Ethnie, Alter oder Behinderung“ diskriminiert würden. „Wenn wir die Armut in den Entwicklungsländern nicht in den Griff bekommen, lösen wir das Klimaproblem nicht“, sagt Hans Peter Schmidt, IPCC-Autor und Klimaforscher vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT).

Gegen die Apokalypse stellen die Forscher mögliche Anpassungsmaßnahmen: höhere Deiche, eine angepasste Landwirtschaft, effiziente Energieerzeugung. Anders als noch beim Bericht 2007 werde das auch gemacht: Technische Lösungen „werden allgemein angewandt“, Firmen und Kommunen sammelten eifrig Erfahrung. Doch Chris Field, einer der Hauptautoren des Berichts, kritisierte, diese Maßnahmen würden oft mit dem Blick auf Probleme der Vergangenheit beschlossen, nicht für die Aufgaben der Zukunft.

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