: Die Mythen von den wilden Typen
In Armin Kratzerts Roman „Hundertmark“ erlebt eine Politikerin aus München in Berlin einen Kulturschock
Armin Kratzert ist Literaturkritiker beim Bayerischen Rundfunk und Romancier, er lebt in München. In München lebte bis vor kurzem auch Marie Hundertmark, die Hauptfigur von Kratzerts Kurzroman „Hundertmark“. Sie ist eine sozial engagierte Politikerin einer großen Partei, die in Berlin den Kanzler stellt. Die Partei lässt sich leicht als SPD identifizieren.
Doch Kratzert hat keinen Schlüsselroman geschrieben. Es geht ihm nicht um den Charakter des Kanzlers, nicht um die ewige Konkurrentin des bayerischen Landesfürsten, nicht um aalglatte Minister und um Pöstchenhuber. Er will am Beispiel Hundertmarks die Veränderungen zeigen, die diese Republik in den letzten Jahren durchgemacht hat. Eine Republik, in der nichts mehr stimmt, jedenfalls dann nicht, wenn die Messlatte dafür in München steht. Und darum lässt er seinen kleinen Roman, der gerade mal einen Tag der Marie Hundertmark wiedergibt, in Berlin spielen.
Die Enddreißigerin Hundertmark ist überraschend als Abgeordnete dorthin gewählt worden, ihr Gatte Raoul verbleibt in München, sie lebt im Hotel. Als sie erwacht, ist ihr schlecht. Denn sie ist schwanger, Raoul weiß noch nicht davon. Zudem ist sie unerfahren im politischen Geschäft, kann einem jungen Journalisten gegenüber kaum die Fassung wahren, wird Opfer einer Gasexplosion, läuft einem Fahrradkurier ins Rad und wird vom Kanzler in schönster Selbstherrlichkeit gerügt.
Der Roman ist nicht weltbewegend, manchmal ein bisschen arg vereinfachend, doch insgesamt ganz hübsch. Interessant ist vor allem das Berlin, das in ihm gezeichnet wird. Hundertmark erwacht in der Friedrichstraße in einem elegant-anonymen Hotel, und der Blick nach draußen, der sich dort bietet, ist befremdlich, weil kalt. Hundertmark muss eine Wohnung finden und zugleich ihre Aufgaben im Paul-Löbe-Haus erledigen.
Kratzert beschreibt das Regierungsviertel als unwirtlichen Ort, die Leute dort als gehetzt und unpersönlich. So einfach aber, wissen wir, lässt sich das Regierungsviertel dann doch nicht fassen, weil es, bei aller Antipathie, die man für diesen Ort hegen kann, doch nicht so einheitlich geworden ist, wie es sich seine Architekten vermutlich erhofft hatten. Man muss sich nur umschauen.
Ein junger Journalist, dem sich die Abgeordnete anvertraut, erzählt ihr begeistert von einem anderen Berlin, das genauso fremdenführergemäß ist: „Wissen Sie, wo etwas los ist? Da ist nicht nur Reichstag, Kurfürstendamm, Wannsee, Adlon. Sie müssen in die Clubs, die Hallen im Osten, auf Partys in der Platte. Finnischen Wodka trinken. Bands aus Polen hören. White Trash. Wollen Sie mitkommen?“ Auch dieses aufregend überdrehte Berlin, von dem der vermeintliche Kenner redet, gibt es nicht. Es wird nur stets ausgiebig beschworen.
Marie Hundertmark selbst tagträumt dann noch, als sie aus dem Fenster schaut, von den 20er-Jahren und der Mauerstadt. „Das Reichstagsufer. Die domestizierte Spree. In einem Kanal wie diesem wurde Rosa Luxemburg versenkt, denkt sie. In diesen braunen Fluten sind DDR- Flüchtlinge ertrunken, erschöpft, blutend, angeschossen, ihr ersehntes Ziel zum Greifen nah. Und hier sind in den 20er-Jahren nachts glitzernde Lustdampfer durch das illuminierte Berlin geschaukelt, auf denen sich Josef von Sternberg, Marlene Dietrich oder Emil Jannings heimlich Kokainbriefchen zuschoben.“ Dieses Berlin ist rundweg ausgedacht. Wir wissen es.
Doch genau dieses Berlin rettet die Politikerin am Ende des Tages: Sie geht in eine WG und kommt zu sich selbst. Genau dieses Berlin hat uns, die wir nicht hier geboren sind, auch einst einmal hergelockt. Und wir sind geblieben, auch wenn wir es nie finden konnten.
JÖRG SUNDERMEIER
Armin Kratzert: „Hundertmark“. A1 Verlag, München 2006, 16,40 €