„Franzosen! Frösche!“

THEATER Das Jugendtheater Strahl macht in „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“ das Publikum zu Flüchtlingen. Mit direkten Folgen

Zunächst ist unklar, warum wer gegen wen kämpft. Es ist auch nicht wichtig

Was wäre, wenn Krieg wäre? Seit 70 Jahren herrscht in Mitteleuropa Frieden. Nicht mal mehr unsere Opas können vom Krieg erzählen, „Krieg“ ist woanders, im Fernsehen, im Computerspiel, in Syrien, in Afghanistan, in Zentralafrika. Aber was wäre, wenn er hier wäre?

Geschicklichkeitsspiele

Am Anfang scheint alles in Ordnung zu sein auf der Probebühne des Jugendtheater Strahl in einer ehemaligen Turnhalle in Schöneberg (auf dem Boden Markierungen, an der Decke Ringe). Eine junge Frau und ein junger Mann (Jennifer Jefka, Moses Leo) sitzen am Tisch und spielen Jenga, dieses Geschicklichkeitsspiel, bei dem man aus Bauklötzen einen Turm immer höher baut, bis er irgendwann einstürzt. So geschieht es zwangsläufig auch hier: Und mit dem Turm kracht die ganze bekannte Ordnung in sich zusammen. Möbel stürzen, die Lampe fällt, das Radio rauscht nur noch. Es ist Krieg.

Zunächst ist unklar, warum und wer gegen wen kämpft. Es ist auch nicht wichtig. „Da sind Löcher in den Wänden, das Dach ist weggerissen. Die Heizung funktioniert nicht mehr. Ihr könnt euch nur noch im Keller aufhalten“, sagt die Schauspielerin, und sie und ihr Partner kriechen in die Kommode, um sich zu verstecken. Namen haben die beiden nicht, brauchen sie auch nicht. Im Laufe des Stücks reden sie sich selten gegenseitig an, übernehmen Rollen als Flüchtling oder als Behörde. Meist sprechen sie direkt das Publikum an. „Dein bester Freund ist verschwunden. Sein Vater war im Bundestag. Und eines Tages hat ihn die Gleichschaltungspolizei abgeholt.“ Die direkte Ansprache hat einen besonderen Effekt: Nicht die Schauspieler erleben die Geschichte, sondern ich, der Zuschauer. Die Schauspieler beschreiben, was mir selbst passiert, als Flüchtling aus dem ehemals zivilisierten Deutschland, das nun von einem Partisanenkrieg zerrüttet ist, Deutsche gegen Franzosen, Deutsche gegen Griechen, Deutsche gegen Deutsche. Auf der Flucht durch Polen, mit der Bahn, dann irgendwie über das Mittelmeer und ins friedliche Ägypten. Doch dort ist man nicht glücklich über die Asylbewerber, „die dekadenten Freidenker aus dem Norden, nicht gewöhnt anzupacken, die nur im Büro herumsitzen können“. Den Flüchtlingen schlägt Misstrauen entgegen: „Asyl? Wenn ihr euch die Flucht leisten konntet, seid ihr ja nicht so schlecht gestellt!“

Mit „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“ bringt das Jugendtheater Strahl eine Adaption des gleichnamigen Buchs der dänischen Autorin Janne Teller auf die Bühne mit einem kleinen, jungen Team und in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Regisseurin Anna Vera Kelle (23) studiert dort im fünften Semester Theaterregie.

Es gibt nur wenige Gegenstände auf der Bühne: Kommode, Stühle, Tisch, Tischdecke, Lampe, Strickleiter. Sie werden alle entfremdet, die Tischdecke wird zum Segel, später zum Zelt. Die Kommode wird Keller, später spricht aus ihr die Ausländerbehörde. „Animiertes Bühnenbild“ nennt das Lilian Matzke, Bühnenbildnerin und Objektkünstlerin. „Mit wandelbaren Objekten und Projektionen aus Schatten und Licht bauen wir Bilder, die sinnlich erfahrbar sind.“

Man wolle „Raum für die eigene Fantasie lassen“, erklärt auch die Regisseurin Anne Vera Kelle. „Auf der Bühne findet keine politische, ideologische Auseinandersetzung statt, wir suchen eher einen persönlichen, emotionalen Zugang.“

Das gelingt trotz der spärlichen Bühnenmittel. Von den beiden Schauspielern überzeugt vor allem Moses Leo, er hat eine warme Stimme und bewegt sich ein wenig linkisch, verunsichert, wie ein Flüchtling es wäre, der in eine andere Kultur verpflanzt wird. Das Stück dauert knapp eine Stunde, hinterher verkündet der Theaterleiter, dass es im Hof Crêpes zu kaufen gibt, Bertrand und Catherine backen.

„Franzosen!“, ruft ein Zuschauer, „Frösche!“ Er meint es lustig, aber zeigt, wie schnell überkommene Gefühle, in denen Nationalität über Freund und Feind entscheidet, wieder hervorkommen. Und wie gut das Stück es schafft, diese freizulegen. MALTE GÖBEL

■ „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“: Jugendtheater Strahl, Probebühne, Kyffhäuserstr. 23, 4./9.–11. April, 11 Uhr, 10. April, 18 Uhr Weitere Termine unter: www.theater-strahl.de