Hinter dem Rücken der Wähler

Vom Überleben in der Krise

ERIC BONSE

Wohin treibt die Europäische Union? Acht Wochen vor der EU-Wahl dürfte diese Frage nicht nur Brüsseler Insider beschäftigen. Auch viele Bürger wüssten gerne, ob sie der EU nach quälenden Krisenjahren wieder vertrauen können. Stehen wir immer noch mit einem Bein am Abgrund? Oder geht es endlich wieder voran? Wenn ja, was ist eigentlich das Ziel?

Doch Kommissare und Kandidaten bleiben eine Antwort schuldig. Wer die Interviews der Frontrunner von Sozialdemokraten und Konservativen für die Europawahl, Martin Schulz und Jean-Claude Juncker, liest, wird kaum Unterschiede entdecken – und noch weniger Antworten auf die Frage, wohin die Reise geht. Die Kandidaten reden zwar viel, einen klaren Kurs geben sie nicht vor.

Vielleicht sollten wir erst einmal schauen, wo wir eigentlich herkommen. Vor zehn Jahren, als Kommissionspräsident José Manuel Barroso seine Arbeit aufnahm, griff die EU noch nach den Sternen. Sie wollte nicht nur eine Verfassung, sie wollte sogar zur „wettbewerbsfähigsten“ Region der Welt aufsteigen.

Doch daraus wurde nichts. In der Krise haben viele EU-Länder nicht nur ihre Industrien verloren. Heute steht Europa schlechter da als 2004: mit Rekordarbeitslosigkeit, Rekordschulden und der Gefahr lähmender Stagnation. Selbst eine Deflation ist nicht mehr auszuschließen.

Auch sonst fällt die Bilanz ernüchternd aus. Mit Barrosos Namen verbindet sich keine einzige große Reform. Statt sich auf eine politische Union hinzubewegen, wie es mal geplant war, hat sich die EU zu einer Freihandelszone zurückentwickelt. Die Kommission hat Macht verloren, die Staaten und ihre nationalen Chefs haben das Sagen.

In Brüssel führen dies viele darauf zurück, dass Barroso sich nie wirklich von den „großen drei“ Deutschland, Frankreich und Großbritannien emanzipiert hat. Statt beherzt Initiativen zu ergreifen, hat er auf Genehmigung aus den Hauptstädten gewartet. Würde sich dies mit Schulz oder Juncker bessern?

Zweifel sind angebracht. Der SPD-Mann Schulz ist viel zu sehr in die Große Koalition in Berlin eingebunden. Der Konservative Juncker ist aus seiner Zeit als Eurogruppenchef gewöhnt, Rücksicht auf Kanzlerin Angela Merkel zu nehmen. Das deutsche Europa hat die beiden wichtigsten Spitzenkandidaten im Griff.

Die Abhängigkeit geht so weit, dass sich Merkel alle Optionen offenhalten kann. Sie hat sich nicht einmal festgelegt, ob sie den Sieger der Wahl tatsächlich als Barroso-Nachfolger nominiert. In Brüssel halten es viele für möglich, dass Juncker am Ende Ratspräsident, Schulz EU-Außenminister wird – und Merkel einen dritten Mann für die Kommission aus dem Hut zaubert.

■ ist Korrespondent der taz in Brüssel. Der Euro beschäftigt den studierten Politikwissenschaftler schon seit den 90er Jahren. Sein Buch „Wir retten die Falschen“ ist als E-Book erschienen und kann bei Amazon bestellt werden.

■ An dieser Stelle wechseln sich wöchentlich unter anderem ab: Sabine Reiner, Niko Paech, Jens Berger, Rudolf Hickel und Ulrike Herrmann.

Das wäre ein massiver Rückschlag für die Demokratie. Schulz und Juncker sollten daher klarstellen, dass personalpolitische Spielchen mit ihnen nicht zu machen sind. Zudem sollten sie verraten, wie sie sich aus der Umklammerung der Chefs lösen wollen.

Schon zwei Tage nach der Europawahl sollen die Weichen gestellt werden – personell und politisch. Bei einem vertraulichen Abendessen in Brüssel wollen Merkel & Co den Kurs der EU auskungeln. Ein paar Pflöcke sind schon eingeschlagen. Im zweiten Halbjahr soll das Schicksal Griechenlands besiegelt werden, außerdem das umstrittene Freihandelsabkommen mit den USA (einschließlich Investorenschutz) kommen, der EU-Vertrag geändert werden.

Doch es kann nicht sein, dass derart wichtige Entscheidungen hinter dem Rücken der Wähler getroffen werden. Schulz und Juncker haben derzeit keine Lust, sich dazu zu äußern. Bleiben die kleinen Parteien. Sie sollten, ja sie müssen all jene Themen in den Ring tragen, die Merkel & Co am liebsten unter sich ausmachen würden. Wenn alles auf den Tisch kommt, können wir vielleicht doch noch mitbestimmen, wohin die Reise geht.