: Kinder kommen vergiftet zur Welt
Nach einer Studie des BUND sind Babys stärker mit Chemikalien belastet als ihre Mütter. Allergien und andere Krankheiten nehmen zu. Die EU will deshalb bis Ende des Jahres eine Verordnung verabschieden. Die Umweltschützer machen Druck
VON HANNA GERSMANN
Chemikalien machen Kinder krank und dumm. Das zeigt eine neue Studie des Umweltverbandes BUND mit dem Titel „Gesundheitsschäden durch eine verfehlte Chemikalienpolitik – Kinder besser schützen“. Darin sind aktuelle Untersuchungen zur besonderen Gefährdung von Kindern zusammengefasst.
Demnach reagieren Kinder besonders empfindlich auf Chemikalien. Ihre Entgiftung funktioniert noch nicht gut genug. Anders als Erwachsene können sie Schadstoffe kaum zerlegen und ausscheiden oder in Fett deponieren. Frank Bartram, Vorsitzender des Deutschen Berufsverbandes der Umweltmediziner, erklärt: „Ein Dreijähriger verträgt auch kein Glas Wein.“ Und jedes Medikament enthalte eine spezielle Dosieranleitung für Kinder. Diese Vorsicht gibt es bei Chemikalien hingegen nicht – im Gegenteil.
In Europa sind rund 100.000 Chemikalien angemeldet. Zumeist sind ihre gesundheitlichen Auswirkungen noch gar nicht erforscht. „Nur 4 Prozent der Chemikalien auf dem Markt sind getestet“, erklärt BUND-Chef Gerhard Timm. Unklar ist auch, wie verschiedene Chemikalien zusammenwirken.
Die EU will die Kontrolle über die Vermarktung und Anwendung von Chemikalien neu regeln – mit einem Gesetz, das sich Reach nennt. Die Abkürzung steht für Registrieren, Evaluieren/Bewerten und Autorisieren/Zulassen von Chemikalien. Geplant ist, dass die Firmen alle Stoffe, von denen mehr als 1 Tonne im Jahr produziert wird, demnächst auf ihre Nebenwirkungen testen müssen. Anders als ursprünglich gedacht sollen Chemiekonzerne aber nicht verpflichtet werden, alle Stoffe zu ersetzen, die nachweislich gefährlich sind. Wenn die Unternehmen das Risiko „angemessen kontrollieren“, heißt es nun vage, dürfen bedenkliche Chemikalien auch weiter verkauft werden.
Am Dienstag wird der Umweltausschuss des EU-Parlamentes das neue Chemierecht in zweiter Lesung beraten. Der BUND will mit seiner Studie den politischen Druck für eine strenge Regelung erhöhen.
„Kinder sind pro Kilogramm Körpergewicht stärker mit Chemikalien belastet als Erwachsene“, sagt Umweltmediziner Bartram. Die giftigen Stoffe entweichen aus Spielzeug, Parfüms oder Lacken und stören die Entwicklung von Gedächtnis und Motorik. „Da sind sich die Forscher jetzt sicher“, sagt BUND-Chemieexpertin Patricia Cameron. Ebenso darüber, dass Chemikalien dafür verantwortlich sind, dass bis zu 5 Prozent der Schulkinder hyperaktiv sind.
Auch andere Entwicklungen bringen Experten mit Chemie in Verbindung: Frühgeburten nehmen zu. Mädchen kommen früher in die Pubertät. Männer produzieren weniger Spermien. Und: Immer mehr Kinder bekommen Hautausschläge oder Asthma. In Deutschland leiden 17 Prozent aller Kinder zwischen 3 und 17 Jahren an Allergien.
Die Belastung der Kinder beginnt schon im Mutterleib – durch Austausch mit der Mutter: In Blut aus der Nabelschnur weisen Wissenschaftler knapp 300 Stoffe nach. In der Muttermilch sind es genauso viel.
Dazu kommt weitere Chemie: In dem Teppich, auf dem ein Kleinkind krabbelt, können Mittel gegen Motten stecken, in der Matratze im Babybett giftige Stoffe, die vor Brand schützen. Vor Brand? Ja, sagt Umweltmediziner Bartram. Matratzenhersteller hielten so feuerschutzrechtliche Vorgaben für ihre Lager ein.
Bartram ist sicher, dass auf viele Stoffe verzichtet werden könnte. Und BUND-Geschäftsführer Timm meint: „Es kann doch nicht jede Mutter zur Chemikalienexpertin werden.“