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Archiv-Artikel

Der St. Martin von Hannover

Der neue alte Alleinherrscher: Martin Kind, Vorstandsvorsitzender des Bundesligisten Hannover 96 wird Geschäftsführer des Clubs. Vom Fußballspiel versteht er wenig. Sein Thema ist das „Produkt Fußball“. Kind kann Bilanzen lesen und im Fußball „ist die Bilanz eben die Tabelle mit Punkten und Toren“

Martin Kind kann Bilanzen lesen und im Fußball „ist die Bilanz eben die Tabelle mit Punkten und Toren“

VON MICHAEL QUASTHOFF

Einer der schönsten Tage im Leben des Fußballpräsidenten Martin Kind war der 20. September 2003. Hannovers 96 triumphierte mit 2:0 über die Borussia ausGladbach. Den Lohn, Platz 6 in der Tabelle, genoss Kind in der VIP- Lounge der vereinseigenen Baustelle namens AWD-Arena, umgeben von Spezis, Claqueuren und lokalen Wirtschaftsbossen, die sich an den Visionen des Hörgerätefabrikanten berauschten. Die „strategische Ausrichtung“ des Hannoverschen Sportvereins von 1896 e.V. hatte Kind eine Woche zuvor in der Berliner Morgenpost wie folgt umrissen. „Ein neues Stadion“, „eine wettbewerbsfähige Mannschaft“, Stars „wie den brasilianischen Weltmeister Kleber“ und „in naher Zukunft UEFA-Cup“.

Drei Jahre und drei Trainer später ist von der schönen neuen Welt lediglich die schmucke AWD-Arena zu besichtigen. Die Roten stehen im Tabellenkeller. Auch auf der Führungsetage wird Traditionpflege wieder großgeschrieben, es herrscht die „Chaos-Politik aus vergangenen Zeiten“ (Stern). Dieses Szenario trieb Kind, der 2005 alle Ämter niedergelegt hatte, zurück aufs Spielfeld, um „die Marke 96 vor schwerem Schaden“ zu bewahren. So lautet zumindest die allgemeinverbindliche von Vereinsseite und ortsansässigen Medien ausgepinselte Version. Es gibt im Club aber auch Leute, die meinen, St. Martins Reinkarnierung hieße den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.

Das würden sie aber nie laut sagen. Ihr weiteres Wirken wäre auf die gesetzliche Kündigungsfrist beschränkt. Denn seit dem Comeback wütet der neue alte starke Mann im Personalbestand wie Hagen unter Etzels Hunnen. Erst kaufte er seinen einzigen Rivalen, den AWD-Finanzdienstleister und Großsponsor Carsten Maschmeyer aus dem Club, dann zwang er Präsident Götz Fromberg zur Demission, ebenso den Geschäftsführer der „Hannover 96 Sales & Service GmbH & Co KG“, Karl-Heinz Vehling. Nächstens säuberte Kind den Aufsichtsrat und ließ sich nach Absage des designierten Geschäftsführers Rene Jäggi zum Nachfolger des Führungsduos wählen. Kaum inthronisiert, legte er Trainer Neururer mit 500.000 Euro-Wegzehrung den Abgang nahe. Davon konnte Jörg Heynlein nur träumen. Dem Chefredakteur des frisch konzipierten und hochgelobten Stadionmagazins „Stammplatz“ kündigte Kind per SMS (siehe Seite 26) am letzten Tag der Probezeit; kurz darauf setzte er die Marketingfirma Sports First vor die Tür und schubste Manager Ilja Kaenzig vom Chefsessel der Profiabteilung.

Einer von Kinds Kernsätze lautet: „Im Fußball regieren die Marktgesetze“. Wer dem Herrn über 1.600 Angestellte in seinem Büro in Großburgwedel vor den Toren Hannovers gegenübersitzt, merkt schnell, mit Kind redet man nicht über Sportsgeist oder das Fußballspiel an sich. Von letzterem, bekennt der Präsident freimütig, verstehe er eher wenig. Sein Thema ist das „Produkt Fußball“. Da sei er Experte. Schließlich kann Kind Bilanzen lesen und im Fußball „ist die Bilanz eben die Tabelle mit Punkten und Toren“, da sehe man gleich, ob jemand „erfolgreich gearbeitet hat“. Er selber arbeite „stets erfolgsorientiert“. Was man angesichts dieser Maßstäbe von Hannovers Interimspräsidium dann ja wohl nicht sagen könne. „Nun, es war nicht gerade zielführend“, seufzt der drahtige Mann und sieht tatsächlich etwas mitgenommen aus.

Warum tut ein 62 Jahre alter, erfolgreicher Unternehmer sich und anderen das alles an? Noch dazu, wenn er weder zum Fußball, noch zu Hannover 96 „eine emotionale Bindung“ besitzt und seine knappe Freizeit genauso gut zwei Galoppern oder seinem neusten Steckenpferd, der Hotelerie, widmen könnte. Die Antwort lehrt eine Menge über Epiphanie und Hybris des deutschen Mittelstandes. Sie heißt „aus Loyalität“. Dieses hohe Gut bezieht sich allerdings weniger auf das einfache Club-Mitglied. Kind meint seine „Mitgesellschafter“ und Sponsoren. Immerhin räumt Kind ein, er habe sich 1997 „etwas blauäugig“ auf das Engagement bei 96 eingelassen. Dann aber packte ihn „der Ehrgeiz zu beweisen“, dass man auch „in diesem speziellen Markt Strukturen entwickeln und dadurch die Probleme lösen kann“. Kind implantierte die betriebswirtschaftlichen Einheiten „96 KGaA“ und „Hannover Sales & Service GmbH“, optimierte das Marketing und schaffte es, Unternehmen wie TUI, Continental, den lokalen Pressemonopolisten Madsack oder die Gilde-Brauerei an den Verein zu binden. Sein größter Coup war die kommunalrechtlich hochbedenkliche Millionenbürgschaft für den Umbau des Stadions, die er dem Stadtkämmerer aus der Tasche leierte.

Der gemeine Fan hatte darob manches zu ertragen. Als die Roten 2001 endlich wieder erstklassig waren, stolperte er über Schutthalden und lose Bohlen, atmete pfundweise Feinstaub und stand sich für Bier und Bratwurst eine Halbzeit lang die Beine in den Bauch, weil das vom Verein verordnete neue Zahlungsmittel – eine Chipkarte – nicht funktionierte. Derweil posaunte der Stadionmuezzin Vokabeln wie „Zukunft 2006“ und „Weltniveau“ in die Runde. Wie zum Hohn ließ der Präsident auch noch jede Ecke, jeden Einwurf und jeden Freistoß von Gebrauchtwagendealern und Möbelfritzen präsentieren. Man nahm es hin, Hannover war wieder mal im Fußballrausch.

Im Zuge dessen übersah man gern ein paar Details, die das System Kind von Beginn an ins autokratisch Bizarre lappen ließen. Dass die Club-Manager nicht von der Geschäftsstelle aus agierten, sondern im Keller seines Großburgwedeler Unternehmens hockten, dass der Präsident mit Trainern und Angestellten immer öfter über eine wachsende Flut von Aktennotizen und Abmahnungen kommunizierte, sich im Wortsinn verzettelte, weil er alles von der Spielerauswechlung bis zum besetzten Presseparkplatz zur Chefsache machte. Wer das kritisierte, bekam schon mal zu hören: „Sie haben zu spuren, Sie kriegen mein Geld“. Der „Teamarbeiter Martin Kind“ (Firmenwebsite), sagen ehemalige 96-Angestellte, neige im Verein zu chronischem Misstrauen und umgebe sich zudem mit Ballflüsterern, über deren Kompetenz man trefflich streiten könne. Die heißen u.a. Dieter Schatzschneider oder gehören zur schreibenden Zunft. Schatzschneider, ein mittlerweile kloßrunder Ex-96-Stürmer, der nach dem Karriereende Topclubs wie Emden und Ricklingen trainierte, offeriert Kind seine Weisheiten nicht nur persönlich, sondern auch via TV. Als er bei DSF verkündete „Wir müssen uns von Rangnick trennen“, war klar, dessen Tage sind gezählt. Ewald Lienen, den nächsten Übungsleiter, schossen die Spezis aus dem Madsack-Pressehaus mürbe, weil ihnen der spröde Mann zu langweilig war. Kind entließ Lienen, obwohl er „diese Entwicklung zutiefst bedauerte“. Heute noch rühmt er Lienens „solide Arbeit“ und seinen „Realismus“, was die Fähigkeiten des kickenden Personals angeht.

Tugenden, die Peter Neururer und, wie Kind fand, zunehmend auch Manager Kaenzig abgingen. Aber da war es schon zu spät. Kind war abgetreten. Warum, ist nicht genau auszumachen. Kind selber sagt, damals waren „die Weichen für eine erfolgversprechende Zukunft gestellt, deshalb habe ich mich rausgezogen“. Andererseits kursieren Gerüchte, es hätte Streit mit Maschmeyer gegeben, weil der seit dem Aufstieg mit rund 13 Millionen Euro verstärkte Kader die überspannten Erwartungen nie einlösen konnte. Sei‘s drum Jetzt ist Kind zurück und schon wieder ganz der Alte. „Wir haben den Turnaround geschafft“, frohlockte der Präsident nach dem ersten Saisonsieg und hofft, im Verein herrscht endlich einmal Ruhe, „damit Trainer Hecking kontinuierlich arbeiten kann“.