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Archiv-Artikel

Angst vor der Oberschicht

Neues Bündnis fordert „eine Schule für alle“: Selektion nach Klasse vier beenden. Ex-GEW-Chef Wunder warnt vor Gymnasial-Lobby. Dinges-Dierig spricht von „überkommener Diskussion“

„Alle Experten raten uns, die frühere Selektion nach Klasse vier aufzugeben“

VON KAIJA KUTTER

In der SPD tobt ein Richtungskampf um die Schulstruktur. Die eine Fraktion, die sich beispielsweise in Altona durchsetzte, ist wie die CDU für ein Zwei-Säulen-System aus Gymnasien und Stadtteilschulen. Die andere, die bereits im SPD-Kreis Nord und Harburg Mehrheiten fand, ist für eine Schule für alle.

Auch „um Einfluss auf diese Debatte zu nehmen“, lud GEW-Chef Klaus Bullan gemeinsam mit der GAL-Politikerin Christa Goetsch und einer Reihe Prominenter am Samstag zu einer Fachtagung in die Klosterschule ein. Greifbares Ergebnis ist eine „Hamburger Erklärung“ für „eine Schule für alle“, die unter anderem SPD-Politiker wie der Nord-Bezirksamtsleiter Mathias Frommann und DGB-Chef Erhard Pumm unterzeichneten. „Wir wollen in der Schulfrage den Kampf um die Köpfe führen“, sagte Bullan. Eine Option dafür ist eine Volksbefragung zur Bundestagswahl 2008.

Warum einen solche Schule notwenig ist, machte der Lübecker Bildungsforscher Matthias von Saldern in einer Powerpoint-Präsentation deutlich. Eindruckvollste Grafik: die Europakarte. Nur in Deutschland und Österreich werden Kinder mit zehn Jahren auf Bildungsgänge sortiert. In Irland passiert das erst mit zwölf, in den Benelux-Ländern mit 13, in Frankreich und Italien mit 14, in Griechenland und Portugal mit 15 und in Spanien und den skandinavischen Ländern erst mit 16 Jahren.

„Der frühe Selektionszeitpunkt ist wissenschaftlich zu verwerfen und moralisch kaum zu rechtfertigen“, sagt von Saldern. Die so genannten „Grundschulempfehlungen“ seien „fast zur Hälfte falsch“. Und wie in keinem anderen Land hänge diese Empfehlung von der sozialen Herkunft ab.

„Alle Experten raten uns, die Selektion nach Klasse vier aufzugeben“, sagte Mitveranstalterin Karin Medrow-Struß vom Elternverein und verlangte „Mut von der Politik zum Wohle des Kindes“. Diese solle die Empfehlung abschaffen und Gymnasien zwingen, alle Kinder zu nehmen. Keines solle mehr sitzen bleiben oder von der Schule fliegen.

Das von Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig (CDU) skizzierte Zwei-Säulen-Modell belässt es bei der Trennung nach Klasse vier und unterscheidet in eher theoretisch und eher praktisch begabte Kinder. Erstere kommen aufs Gymnasium, Letztere auf die Stadtteilschulen, zu denen die Haupt- Real- und Gesamtschulen zusammengefasst werden, an denen Kinder aber ebenfalls zum Abitur geführt werden können.

„Wir haben große Zweifel, dass diese zwei Säulen wirklich gleichwertig werden“, sagte Bullan. „Dahinter steckt ein Denken in Begabungstypen, das wir ablehnen“. Die internationale Forschung, ergänzt Christa Goetsch, „geht von einem dynamischen Begabungsbegriff aus und nicht von einem statischen“. Dass das gegliederte System „begabungsgerecht“ ist, wagt heute keiner mehr zu sagen.

Es waren denn auch nicht pädagogische, sondern politische Argumente, mit denen der frühere GEW-Bundeschef Dieter Wunder für die zwei Säulen warb. Er warnte vor der starken Klientel der Gymnasialeltern, ohne deren Zustimmung keine Reform möglich sei. Die Erfahrungen der 70er im Kampf um die Gesamtschule zeigten, dass „nicht mal Parlamentsmehrheiten ausreichen, um Strukturveränderung zu beschließen, wenn sich die Oberschicht und die Mittelschicht dagegen wehrt“. Wer Hauptschülern helfen wolle, müsse die „Gymnasien unangetastet lassen“.

Dieter Wunder sitzt für die SPD in der Enquete-Kommission, die der Bürgerschaft bis zum März eine Struktur vorschlagen soll. Er steht für den Teil der SPD, die in der Bewegung der CDU eine Chance und das maximal zu erwartende Zugeständnis der CDU sieht. Als wollte sie dies aus der Ferne bekräftigen, ließ Dinges-Dierig von ihrem zeitgleich in der Patriotischen Gesellschaft stattfinden Bildungskongress aus verkünden, die Diskussion um eine „Einheitsschule“ sei „überkommen“ und brächte seit dreißig Jahren nicht weiter.