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Archiv-Artikel

Am Pissen soll’s nicht scheitern

Die Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen war eine der ersten Frauen in diesem Beruf. Heute gilt sie als Institution im deutschen Dokumentarfilm. Im Rahmen des Hamburger Filmfests zeigt das Metropolis Kino heute Abend ihr neuestes Werk und den einzigen Film über sie

Mir wurde abgeraten, diesen Männerberuf zu ergreifen: Man müsse in manchen Situationenim Freien pinkeln

VON KATRIN JÄGER

Die Kamera ruht auf dem roten Gesicht des Kneipenwirts, schwenkt langsam in den großen Aluminiumtopf auf dem Herd, beobachtet die blubbernde Soße, während im Hintergrund die Stimme des Wirts die Zutaten seines Traditionsessens beschreibt: Schwarzsauer aus sieben Litern Schweineblut. Er taucht einen Löffel in den Sud, schiebt an der Kamera vorbei und fragt: „Schmeckt?“ Eine weibliche Stimme bejaht leise.

Die Szene stammt aus dem Dokumentarfilm „Der Wirt, die Kneipe und das Fest“, der heute Abend im Rahmen des Hamburger Filmfests im Metropolis-Kino läuft. Durch das Kameraauge in Beziehung zu treten, das ist das Markenzeichen der Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen. Sie lässt sich ein auf die Protagonisten ihrer Dokumentationen, motiviert durch ein echtes Interesse an den Menschen und ihren Eigenarten: „Bei mir kann jeder so sein, wie er will. Ich stelle keine Szenen. Ich arrangiere mich mit dem, was kommt.“

Dieses Wartenkönnen auf den richtigen Moment, dieses Reagieren auf die Situation, dieses Erfassen von Stimmungen und die Verdichtung zum erzählenden Bild, dafür hat Gisela Tuchtenhagen etliche Auszeichnungen erhalten. Unter anderem den Adolf-Grimme-Preis in Gold für die Dokumentationen „Emden geht nach USA“ und „Heimkinder“.

Am liebsten würde ich an den Ehrungen nicht teilnehmen, erzählt sie. Sie scheut das Rampenlicht, in das sie heute Abend im Metropolis wieder treten muss, um ihren neuen Film vorzustellen. „Die Idee stammt von der Co-Regisseurin und Cutterin des Werks, Margot Neubert-Maric“, betont Tuchtenhagen.

Sie redet wenig, doch die spärlichen Sätze fallen wie reife Äpfel. „Wenn ich alle so lasse, wie sie wollen, neigen sie sich mir zu. Das ist meine Erfahrung. Mit den Menschen in meinen Filmen, aber auch mit Tieren und Kindern“, sagt sie.

„Zuneigung“ lautet dementsprechend der zweite Film heute Abend im Metropolis: Die Regisseurin Quinka Stoehr zeichnet darin ein Porträt von Gisela Tuchtenhagen, die mit gemischten Gefühlen in dieses Projekt eingewilligt hat: „Die Gefilmte zu sein, das entspricht mir eigentlich überhaupt nicht, da zieht sich in mir irgendwas zusammen.“

Trotz ihrer Scheu, ihrer körperlichen Zurückgenommenheit und der Sparsamkeit an Worten, regt die fast 63-Jährige zum Dialog an, auf einer subtilen, emotionalen Ebene. Vielleicht über ihren warmen und wachen Blick, bestimmt aber durch ihre Authentizität. Sie zeigt sich offen, mit allen Spuren, die ihr bewegtes Leben in den kleinen, zierlichen Körper eingeschrieben hat.

„Meine Kindheit im Barackenlager bei Heide in Schleswig-Holstein war schön. Dann kam der Vater aus dem Krieg zurück, und alles wurde anders“, erzählt sie mit verhaltener Stimme. Die Familie wollte „nur nicht auffallen“. Gisela, jüngstes von fünf Kindern, passte nicht ins Konzept. Sie wehrte sich gegen die Nazi-Lehrer, flog von der Schule.

Ihre Eltern verfrachteten sie in die geschlossene Erziehungsanstalt in Salem. Anstaltskleidung, Gitter vor den Fenstern. Flucht nach Paris, in Hausschuhen. Nach vier Jahren Künstlerleben in einer Gruppe von Straßenmalern und dem Bruch mit ihrer ersten großen Liebe Phillipe kehrte sie nach Deutschland zurück. „Als ich aus Frankreich zurückkam, hatte ich das Gefühl, ich hätte alles erlebt. Ich wusste nicht, was ich machen sollte“, sagt sie. Die 21-jährige versuchte, sich umzubringen.

Eine Reihe von glücklichen Begegnungen, Zuneigungen im Tuchtenhagen-Deutsch, machte sie dann zur bekanntesten Kamerafrau Deutschlands. Wenn sie davon erzählt, klingt das so, als sei sie in ihre Karriere hineingestolpert. Zuerst in die Fotografieausbildung in Berlin. „Ich stand plötzlich vor der Schule und da bin ich rein, ohne, dass ich vorher jemals ein Foto gemacht hätte“, erzählt sie. Während der Ausbildung entdeckte sie die Liebe zu den Bildern, zum Umgang mit Licht und Schärfe. „Fotos zu machen, das war mein Glück. Da hatte ich etwas, was ich anderen zeigen konnte.“, sagt sie. „Und dieses Glück wollte ich für mich behalten und nicht für Zeitschriften fotografieren.“

So ging sie auf die Filmhochschule DFFB, wurde angenommen, obwohl sie die Aufnahmebedingungen nicht erfüllte. Später, als gestandene Filmemacherin, erhielt sie mehrere Lehraufträge. „Und das freut mich so“, sagt Tuchtenhagen, „dass ich ohne Abitur oder eine besonders gute Allgemeinbildung eine Professur bekommen habe.“

Während ihres Studiums an der Filmhochschule verliebte sie sich in ihren Lehrer, den Filmemacher Klaus Wildenhahn. Mit ihm führte sie elf Jahre lang eine symbiotische Beziehung, in der die Liebe zueinander und die Liebe zum Filmen eins waren. „Als ich anfing, da existierte so ein Klischee vom Kameramann: Ich gehe Meilen weit für Camel Filter“, erzählt Tuchtenhagen. „Mir wurde davon abgeraten, diesen harten Männerberuf zu ergreifen. Begründung: Man müsse in manchen Situationen im Freien pinkeln.“ Daraufhin schrieb sie in der EMMA den Artikel „Am Pissen soll’s nicht scheitern“.

Als erste Frau schaffte es Tuchtenhagen in den 70er-Jahren auf die Titelseite der Fachzeitschrift Der Kameramann. Wieder, ohne dass sie nach Ruhm und Aufmerksamkeit gestrebt hätte. Sie machte nur, was sie für richtig hielt, verzichtete auf gut gemeinte Ratschläge von Kollegen und entwickelte, vom Mainstream kritisch beäugt, ihre eigenwilligen Bilder: lange, beobachtende Einstellungen, teilweise zu Ungunsten von Bildschärfe und Belichtung.

Immer wieder wagte sie sich mit hoher Sensibilität in gesellschaftliche Tabubereiche. Sie begleitete eine andere Filmemacherin bei deren Sterben und drehte die Dokumentation „Mein kleines Kind“ über die Geburt und den frühen Tod des schwerbehinderten Sohnes der Hebamme Katja Baumgarten.

Filme machen, das ist nach wie vor ihr Leben. Und ihre beiden Söhne Christian und Alfredo. Sie hat Gisela Tuchtenhagen aus einem peruanischen Heim adoptiert und allein großgezogen. Das erzählt sie wie nebenbei, so pragmatisch, so leise liebend, so genuin Tuchtenhagen.

Dokumentarfilm-Special im Metropolis- Kino, 19 Uhr: „Der Wirt, die Kneipe und das Fest“, Dokumentarfilm von Gisela Tuchtenhagen und Margot Neubert-Maric; 21 Uhr: „Zuneigung – die Filmemacherin Gisela Tuchtenhagen“, Filmporträt von Quinka Stoehr.