: berliner szenen Touristischer Hotspot
Schlange sehen
Für Touristen gibt es keine schönere Fahrt mit der S-Bahn als zwischen Alexanderplatz und Bahnhof Zoo, denn nirgendwo kann man die neuen Bauten billiger und schneller bestaunen. Selbst ich war monatelang aufgeregt, wenn die S-Bahn in den neuen Hauptbahnhof einfuhr. Am liebsten hätte ich den Touristen Meinhard von Gerkans fehlendes Stück Dach pantomimisch vorgetanzt, nur damit alles stimmte, im Jürgen-Klinsmann-Sommer, als auch ich seltsam wurde.
Aber jetzt im Herbst muss ich wieder lässig wirken. Die Stationen gespeichert, sehe ich selten hoch, sogar stehend und in dichtem Gedränge stoße ich beim Lesen niemanden an, falls der Zug unerwartet und ruckartig stoppt. Alles nur, damit mich die Touristen für einen Langzeitberliner halten, einen verantwortungsbewussten Hauptstädter, neben den man sich stellt und ungeniert Eindrücke von sich gibt, manchmal in Erwartung, dass ich sie korrigiere oder Fragen beantworte, was ich gern und gönnerhaft tue.
Gestern habe ich zum ersten Mal meine Pflicht vernachlässigt. Vor mir stand ein Vater mit seinem etwa zwölfjährigen Sohn, beide trugen Funktionskleidung, als hätte ihr Berlin-Reiseführer sie auf Gebirge aufmerksam gemacht: festes Schuhwerk und geräumige Jacken mit zahlreichen Taschen, in denen Reinhold Messner problemlos auch noch Platz gefunden hätte. Zwischen Bellevue und Hauptbahnhof sah der Vater aus dem Fenster, zeigte auf die so genannte Schlange, auf dem Moabiter Werder, in der Regierungsbedienstete wohnen, und sagte: „Da ist das Kanzleramt!“ „Im Fernsehen schaut es aber ganz anders aus“, antwortete der Sohn enttäuscht. „Deswegen sind wir ja hier!“ sagte der Vater, und ich nickte ihm zu.
JUTTA RAULWING