: „Die Juden waren der ideale Feind“
INTERVIEW STEFAN REINECKE UND CHRISTIAN SEMLER
taz: Herr Friedländer, der deutsche Jude Victor Klemperer trifft im März 1945 im Luftschutzbunker eine junge Deutsche, die desillusioniert über die Nazis redet – aber die Juden hasst. War das typisch?
Saul Friedländer: Es scheint so. Klemperer sagt ja selbst dazu, dass die Nazis in vielem irrten – aber mit ihrem Hass auf die Juden waren sie erfolgreich. Ihre antisemitische Propaganda fiel auf fruchtbaren Boden, nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich und Osteuropa. Während des Krieges brauchten sie „den Juden“ als Feind, der sowohl Kapitalist als auch Bolschewist war. Die Propaganda von der drohenden jüdischen Rache war auch nützlich, um den Durchhaltewillen der Bevölkerung zu stützen. Die Juden sind für die Nazis der ideale Feind.
Warum?
Weil die Nazis ein ständiges Mobilisierungsmotiv brauchten – und dafür bot sich ein mythisches Wesen wie „der Jude“ an. Damit sorgte man auch für die Kampfatmosphäre, die typisch für faschistische Bewegungen ist.
Nach 1942 gibt es im deutschen Reich keine Juden mehr – doch der Antisemitismus nimmt zu, wie Sie in „Die Jahre der Vernichtung“ schreiben. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Solche Widersprüche sind typisch für den Antisemitismus. In der NS-Propaganda war „der Jude“ ein übermächtiger Feind, der ein Weltkomplott schmiedet. Das wurde geglaubt – während man doch gleichzeitig wehrlose, zerlumpten Juden sah, die deportiert wurden. Es war offenkundig, dass diese Juden nicht mit der Weltverschwörung der NS-Propaganda zur Deckung zu bringen waren. Doch auf die Frage: Warum wehren sich die Juden nicht, wenn sie doch so mächtig sind?, ist niemand gekommen.
Was wussten die Deutschen vom Holocaust?
Sie wussten viel, und sie wussten es früh, schon Ende 1941. Aufschlussreich sind die Berichte des Sicherheitsdienstes der SS, die ein recht realistisches Bild zeichnen – so realistisch, dass die NS-Führung sie 1944 unterdrückte. Dort erfährt man, dass zum Beispiel in der westfälischen Stadt Minden im Dezember 1941 bekannt war, dass die Juden in Viehwaggons in den Osten transportiert werden, dort arbeiten müssen oder erschossen werden. Entsetzt hat das kaum jemand. Man nahm es hin.
War das Ahnen oder Wissen?
Wissen. Auch wenn die Deutschen nicht alle Details kannten. Aber wer etwas wissen wollte, musste nur Hitler zuhören, der 1942 fünfmal die gleiche Formulierung gebrauchte – nämlich dass die Juden früher über seine Prophezeiung, dass er die Juden vernichten würde, gelacht hätten. Dann, als der Krieg sich ausbreitete, hätten nur noch wenig gelacht. Bald würde keiner mehr lachen.
Die Leute haben verstanden, was das bedeutete?
Ja. Es gibt viele Tagebücher, die zeigen, dass den Deutschen klar war, dass Hitler damit die Vernichtung der Juden meinte. Der Bischof von Osnabrück, Berning, schrieb im Februar 1942, dass es um die totale Vernichtung der Juden geht.
Aber gleichzeitig verbot das NS-Regime streng, über Details der Vernichtung zu sprechen.
Richtig, das war tabuisiert. Die SS-Leute in Auschwitz durften kein Wort darüber sagen, was dort geschah. Aber sie hatten Besuch, von ihren Frauen, Kindern, Freundinnen, die dort wochenlang blieben und dann ins Reich zurückkehrten. Man kann einen Massenmord von diesem Ausmaß nicht geheim halten. Das wusste auch der Kommandant von Auschwitz, Höß.
Wie fällt Ihrer Ansicht nach die Entscheidung zur völligen Vernichtung der Juden?
Ich denke, dass Hitler die zentrale Figur ist. Und dass die Entscheidung zur Vernichtung der Juden Ende 1941 fällt. Im Dezember 1941 treten die USA in den Krieg ein, gleichzeitig beginnt in Moskau völlig überraschend die erste Gegenoffensive der Sowjetunion. Damit ist zweierlei klar: Es gibt, wie im Ersten Weltkrieg, einen Zweifrontenkrieg. Und der Krieg wird länger dauern. Während dieser Wochen redet Hitler unaufhörlich von den Juden, nicht nur öffentlich, auch bei den Tischgesprächen.
Die Vernichtung der Juden ist also direkt mit dem Krieg verkoppelt?
Ja – und vor allem mit der Rolle, die die Juden im Weltbild der Nationalsozialisten spielen, nicht nur in ihrer Propaganda. Deutlich wird dies, als die Baum-Gruppe, jüdisch-kommunistische Widerstandskämpfer, 1942 in Berlin einen Brandanschlag auf die NS-Ausstellung „Das Sowjetparadies“ unternimmt. Die Reaktion der NS-Führung ist eindeutig. Hitler weist Speer an, die jüdischen Zwangsarbeiter im Reich durch Polen und Russen zu ersetzen. Die jüdischen Arbeiter werden deportiert und getötet.
Die NS-Führung fühlt sich von der Baum-Gruppe wirklich bedroht?
Ja. Goebbels sagt nach der Aktion der Baum-Gruppe, dass jetzt jeder dahergelaufene Jude eine Gefahr ist und man mit der Vernichtung entschlossen fortfahren muss. Darin zeigt sich das wahnhafte Bild, das die NS-Führung von den Juden hatte – als mächtige Feinde, als Partisanen, die sogar im Inneren des Reiches zuschlagen können. Sie assoziieren die Aktion der Baum-Gruppe mit der Revolution 1918/19, als – in der Perspektive der NS-Führung – schon einmal Juden in Berlin einen Aufstand und Dolchstoß inszenierten. Deshalb lässt Hitler die jüdischen Zwangsarbeiter deportieren. In dieser Logik muss die Vernichtung umso schneller vorangehen, je schwieriger die militärische Lage der Deutschen wird.
Welche Rolle spielen die Aufstände in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor?
Sie bestätigen die wahnhafte Perspektive. Der jüdische Zwangarbeiter ist in den Augen der NS-Führung eine Gefahr – deshalb kommt es zu Aktionen wie dem „Erntefest“ in Majdanek, bei dem an einem Tag im November 1943 über 28.000 jüdische Sklavenarbeiter ermordet werden. Man versteht diese Reaktion nur, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Jude im NS-Weltbild etwas Besonderes war. Auch Homosexuelle und Behinderte, Roma und Sinti und die slawischen Massen waren Feinde – aber nur der Jude war der ständig aktiver Feind, der Tag und Nacht daran arbeitet, den deutschen Sieg zu verhindern. Das ist die Wahnlogik, die sich immer mehr verfestigt, je schlimmer die Lage wird.
Das ist ein zentrales Motiv für den Holocaust?
Ja. Der Jude will die Welt beherrschen. Deshalb muss er vernichtet werden.
Das heißt: Die Juden sind ein Spiegel der Nazis …
Aus Sicht der Nationalsozialisten – ja.
Für die Nazis ist die „Endlösung der Judenfrage“ absolut wesentlich. Welches Motiv steckt dahinter?
Ich bin kein Anhänger der These von Daniel Goldhagen, dass der deutschen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts in einer direkten Linie zu Auschwitz geführt hat – oder dass die Linie sogar von Luther bis Hitler reicht. Die Nazis haben, laut Goldhagen, nur die Möglichkeit eröffnet, dass dieser quasi genetische deutsche Antisemitismus zur Tat werden konnte. Das ist falsch. Oder mit dem Historiker George Mosse gesagt: Wenn man sich Ende des 19. Jahrhunderts fragt, wo eine Tat wie Auschwitz passieren kann, dann ist die Antwort völlig klar: in Frankreich.
Sie rücken die Rolle des Juden als Feind ins Zentrum. Unterschätzen Sie nicht andere Aspekte? Etwa die Bereicherung – also dass der Raub jüdischen Eigentums und die Ausplünderung der eroberten Gebiete benutzt wurde, um den Lebensstandard der Deutschen bis 1945 zu sichern?
Nein. Da bin ganz anderer Ansicht als Götz Aly. Die Nazis wollten Lebensraum im Osten erobern und das demographische Gleichgewicht in Europa verändern. Die Nazis nutzen auch geraubtes jüdisches Eigentum, um die Wehrmacht und auch die deutsche Zivilbevölkerung zu ernähren. Das ist richtig, aber nicht zentral. Auch die Sklavenarbeit der Juden nicht.
Was dann?
Das Hauptziel ist nicht ihre Auspressung, sondern ihre Vernichtung.
In „Die Jahre der Vernichtung“ betonen Sie, dass der Holocaust nur mit Hilfe der Kollaborateure realisiert werden konnte. Ein Historiker im „Spiegel“ kritisiert, dass Sie die Rettungen von Juden durch polnischer Helfer zu gering veranschlagen …
Der Vorwurf ist nicht berechtigt. Ich schildere auch Rettungsaktionen der „Zegota“ und betone, wie gefährlich es war, den Juden zu helfen. Denn überall gab es Spitzel, Denunzianten.
Für wie groß halten Sie den Unterschied zwischen dem religiös fundierten Judenhass in Osteuropa und dem Antisemitismus der Nazis?
Der traditionelle, religiös verwurzelte Antisemitismus in Polen war sehr scharf, aber er hat nichts mit den Nazi-Antisemitismus zu tun. Es gab in Polen die Besonderheit, dass man dort antisemitisch und – gegenüber der Besatzung – antideutsch sein konnte. Das ist ein Unterschied zu den besetzten Ländern in Westeuropa, wo die Antisemiten meist mit den deutschen Besatzern kollaborierten. Aber trotzdem gab es in Polen keine wirkliche Gegenkraft zu den Nazis. Viele Polen wollten die Juden loswerden – das war ein günstiger Boden für die Morde der Deutschen.
In Ihrem Buch wird der Schrecken durch die Zeugnisse der Opfer äußerst plastisch. Sie schreiben in einem ruhigen, erzählenden, ja schönen Stil. Wie schreibt man schön über den Schrecken?
In den Augen mancher deutscher Historiker gilt gut zu schreiben als Nachteil. Die Unart, „je komplizierter der Satz, desto tiefer der Gedanke“, liegt mir nicht. Ich bin französisch erzogen, da lernt man klar zu schreiben. Ich glaube, dass man über den Holocaust nicht schreiben kann wie über die Entwicklung der Getreidepreise. Zudem wird die NS-Zeit historisiert. Historisierung tendiert zur Abstraktion. Dagegen wollte ich die Sichtweise der Opfer setzen.
Emotionalisierung ist aber auch eine Gefahr. Goldhagen wurde zu Recht vorgeworfen, mit emotionalen Knalleffekten zu arbeiten.
Ja, da muss man in der Tat aufpassen. Man darf nicht Horrorszene auf Horrorszene häufen. Ich haben oft Zeugnisse von Opfern verwandt, die einen sachlichen, fast distanzierten Ton haben. Ich glaube, dass uns gerade dies erschüttert. So wie auch die kurzen Momente der Freude und des Optimismus der Verfolgten, denen die Katastrophe auf dem Fuß folgt.