Deutschland singt den Superleader

CHORGESANG Alljährlich lädt der Rundfunkchor Berlin deutsche Führungskräfte ein, in einem „Leaderchor“ auf der Bühne zu singen. Drei Probetage als Vorbereitung fürs Konzert müssen genügen

Sonst führen sie andere, jetzt müssen sie selbst gehorsam sein: Der Leaderchor ist so etwas wie das musikalische Gegenstück zum Manager-Survivalcamp

VON KATHARINA GRANZIN

Manchmal ist es besser, nicht so hart zu arbeiten. Zum Beispiel mit dem Zwerchfell. „Das Zwerchfell leistet hervorragende Arbeit, auch ohne dass wir uns einmischen“, erklärt Kristina Mäkimattila, die als Altistin beim Rundfunkchor angestellt ist, zu Beginn der Einsingphase.

Sie sensibilisiert die SängerInnen des Leaderchors, der in diesen Tagen erst noch ein Chor werden soll, dafür, das richtige Maß zwischen Spannung und Entspannung zu finden. 15 Frauen und sechs Männer stehen in optimaler Singhaltung vor ihr, die Füße hüftbreit auseinander, die Arme locker neben dem Körper. Niemand hat die Hände in den Hosentaschen, hier herrscht eiserne Disziplin. Der Chor hat für ein besonderes Erlebnis bezahlt. In nur drei Tagen werden die SängerInnen das Repertoire für ein komplettes A-cappella-Konzert einstudieren, das am vierten Tag, mit etwas Unterstützung durch Mitglieder des Rundfunkchors, aufgeführt werden soll.

Resonanzraum Mundhöhle

Dafür mussten die Kandidaten schon Wochen vorher zu Hause üben. Manche haben die Noten selbst am Klavier einstudiert, andere haben eigens Gesangsunterricht genommen, um für die Berliner Herausforderung gewappnet zu sein. „Machen Sie ein Happy-surprise-Gesicht!“, fordert Kristina Mäkimattila jetzt, denn der Ausdruck freudiger Überraschung erweitert den Resonanzraum der Mundhöhle. Dann erklärt sie noch, welche Konsonanten als Kehlkopflockerer gelten, und gibt endlich die ersten Töne vor. „Boy – boy – boy“, singt der Chor folgsam.

Sonst führen sie andere, jetzt müssen sie selbst gehorsam sein. Der Leaderchor ist so etwas wie das musikalische Gegenstück zum Manager-Survivalcamp. „Für mich ist das hier ein kleiner Abenteuerurlaub“, sagt denn auch Jürgen Eulenpesch aus Ratzeburg, der angereist kam, um Bass zu singen. Er ist zum ersten Mal dabei. Nachdem er einen Bericht über den Führungskräftechor im Radio gehört hatte, beschloss er, sich zu bewerben, „obwohl ich gar nicht besonders gut singen kann“. Als Geschäftsführer einer Drogenberatungsstelle habe er zudem nicht geglaubt, zur Zielgruppe zu gehören. „Ich dachte zuerst, die suchen mit der Aktion Sponsoren aus der Wirtschaft.“

Natürlich: Wenn solche sich dabei fänden, wäre das ein zusätzlicher Bonus, über den niemand traurig wäre. Doch geht es Simon Halsey, der den Rundfunkchor seit 2001 leitet, in erster Linie um Vernetzung. Halsey, der Brite ist, weiß, dass er sich in einer privilegierten Position befindet, einen Chor zu leiten, der ausschließlich aus fest angestellten Solisten besteht. Alle Projekte, die er anstößt – besonders die jährlichen Mitsingkonzerte in der Philharmonie sind ein Renner –, dienen auch dazu, seinen Chor als Marke fest in der Gesellschaft zu etablieren.

In England sei die Musikszene anders gelagert, dort habe das Musizieren von Amateuren einen höheren Stellenwert und ein deutlich höheres Niveau, erläutert Halsey. Dafür gebe es nur wenige hauptberufliche Musiker. „Wir haben im ganzen Land nur fünf Opernhäuser. Und für Profi-Chorsänger gibt es genau 24 Stellen“, erzählt er, „das sind die BBC Singers.“ Dafür verfüge allein die Universität von Cambridge über 20 professionell arbeitende Laienchöre, die teilweise auch international erfolgreich seien. Sogar die Houses of Parliament hätten einen Chor, der drei Konzerte pro Jahr gebe und dem etwa zehn Prozent der Abgeordneten beider Kammern angehörten. – Es ist absolut unvorstellbar, das auf deutsche Verhältnisse zu übertragen.

Auslese bei der Elite

Ebendas war Halseys Idee hinter dem Leaderchor: sie auch hierzulande zu animieren, die singende Elite. PolitikerInnen haben sich zwar noch nicht gemeldet. Doch wie das Mitsingkonzert hat sich auch der Leaderchor, der dieses Jahr zum fünften Mal stattfindet, fest etabliert im musikalischen Leben. Es gehen weit mehr Bewerbungen ein, als MitsängerInnen gebraucht werden – und das, obwohl das Projekt kostendeckend arbeiten muss und für die Teilnahme mittlerweile fast 800 Euro zu berappen sind.

Männer haben übrigens deutlich bessere Chancen auf Aufnahme als Frauen. Wie im wirklichen Chorleben auch, ist das starke Geschlecht in der Minderheit. „Mensch, die haben ja die gleichen Probleme wie überall“, lacht Eva-Maria Baxmann-Krafft. Die Personalchefin des Deutschen Instituts für Normung macht seit fünf Jahren beim Leaderchor mit. Jahrzehntelang hätte sie in einer Kantorei gesungen, doch das Berufsleben lasse ihr kaum Zeit zu regelmäßigen Probebesuchen, sagt sie. Daher sei der Leaderchor als Projekt ideal. Dann erwähnt sie noch, dass sie mittlerweile Vorsitzende des Freundeskreises des Rundfunkchors geworden sei. – Und da wird es schon sichtbar, das Netzwerk des Leader-Projekts. Führungskräfte werden eben überall gebraucht.

■ Konzert Leaderchor (mit Werken von William Byrd, Felix Mendelssohn Bartholdy u. a.): So., 31. 10., 17 Uhr, im Atrium der Allianz-Repräsentanz, Pariser Platz 6