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Archiv-Artikel

System mit Lücken

Kevins Familie war längst in der Obhut des Jugendamtes. Auch in Hamburg kam 2004 ein vernachlässigtes Mädchen um, obwohl Sozialarbeiter in der Familie waren. Behörden versuchen, für Früherkennung zu sensibilisieren

Vertrauen ist gut. Ist Kontrolle besser? Es mehren sich die Fälle, in denen Kinder bis zu ihrem Tode schwer vernachlässigt wurden, obwohl ihre Familie in Obhut der Jugendämter war. Das Bremer Sozialressort versicherte gestern, dass der Vater des zweijährigen Kevin in ständigem Kontakt mit den Behörden gestanden habe. Wenn er Termine absagte, so Sprecherin Petra Kodre, habe er dafür einen „guten Grund“ wie etwa eine Krankschreibung angeführt.

So lief es auch mit den Eltern der zweijährigen Michelle aus Hamburg, die im August 2004 nach schwerster Vernachlässigung an einer Mandelentzündung starb. In diesem Fall ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die Sozialarbeiter, die regelmäßig in der Wohnung der Familie waren und das Elend übersahen.

Auch Michelles Mutter gab sich gegenüber den Behörden stets kooperativ. Wenn die „Hilfe zur Erziehung“ kam, war das Wohnzimmer so aufgeräumt, dass die Sozialarbeiterin nicht auf die Idee kam, die Kinderzimmer zu inspizieren – in denen Ungeziefer herumkrabbelte und Kot an den Wänden klebte. Auch dass sie die sechs Kinder kaum zu Gesicht bekamen, hat die Betreuer nicht beunruhigt. Sie schliefen, behauptete die Mutter, und die Sozialarbeiter haben es geglaubt. Sonst wäre ihnen aufgefallen, dass alle Kinder motorisch stark unterentwickelt waren und selbst der fünfjährige Sohn nicht sprechen konnte.

Den Behörden ist seit langem bewusst, dass die Sensibilität für Kindeswohlgefährdungen geschärft werden muss. Etliche Maßnahmen, welche die einzelnen Länder in den vergangenen Jahren ergriffen haben, zielen darauf ab. So startet jetzt in Schleswig-Holstein eine Weiterbildung zur Kinderschutzfachkraft. Parallel wurde im Sommer das Frühwarnsystem „Schutzengel für Schleswig-Holstein – Netzwerk sozialer und gesundheitlicher Hilfen für junge Familien“ auf den Weg gebracht. Hamburg hat eine Hotline eingerichtet, die bei Meldungen auf Kindeswohlgefährdungen eine unmittelbare Überprüfung auslöst. „Mehr Menschen und Institutionen reagieren schneller und häufiger“, bilanziert Behördensprecherin Katja Havemeister. Niedersachsen wird ab 2007 das Angebot von Familienhebammen von derzeit fünf auf 14 Kommunen ausweiten. Im Dezember veranstaltet das Sozialministerium eine „Präventionskonferenz“ für Fachleute.

Doch die Experten sind sich einig, dass man das Hilfesystem zwar optimieren, nie aber lückenlos gestalten kann. „Fälle wie der in Bremen“, sagte Thomas Spieker vom niedersächsischen Sozialministerium, „können nie ausgeschlossen werden.“ELKE SPANNER