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Archiv-Artikel

Es herrschte ein „unerhörter Spardruck“

Nach dem Tod des kleinen Kevin in Bremen erheben freie Träger von Sozialhilfe-Angeboten schwere Vorwürfe gegen den Leiter des Bremer Jugendamtes: Der habe Jugendhilfe nach Kassenlage gemacht. Die Grünen fordern einen Untersuchungsausschuss

Aus Bremen KLAUS WOLSCHNER

Der Fall des toten Kevin verdeutliche „das komplette Versagen des Jugendamtes“ – diesen Vorwurf haben die oppositionellen Bremer Grünen gestern formuliert und gleichzeitig einen Untersuchungsausschuss zu den Zuständen in der Bremer Jugendhilfe gefordert. Seit Jahren, so berichtete die Fraktionsvorsitzende Karoline Linnert, würden die Fachvertreter im Jugendhilfeausschuss dagegen Sturm laufen, dass die Kostenbegrenzungen beim Rechtsanspruch auf Hilfe eine immer größere Rolle spielten. „Kevins Tod ist nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass Bremer Kindern in Not nicht oder nicht angemessen geholfen wird.“

Die Grünen fordern deshalb auch die Suspendierung des Leiters des Jugendamtes, Jürgen Hartwig. Der habe „dafür gesorgt, dass nicht allein nach fachlichen Gesichtspunkten entschieden wird, ob ein Kind in eine Pflegefamilie oder ein Heim kommt.“ Es sei im Zweifelsfall in Vier-Augen-Gesprächen ein „unerhörter Spardruck“ von ihm ausgeübt worden, meinte der jugendpolitische Sprecher Jens Crueger – „rechtswidrig“ sei das, da das Kinder- und Jugendhilfegesetz ausschließlich fachliche Kriterien kenne. Die Zustände im Jugendamt sollten in einem Untersuchungsausschuss aufgeklärt werden, in dem die Mitarbeiter des Jugendamtes zur vollständigen Aussage verpflichtet sind und bei Falschaussagen belangt werden können.

Gestern hat Joachim Pape, der Leiter des Hermann-Hildebrand-Hauses, der im Frühjahr den Bremer Bürgermeister empört über den Fall Kevin informiert hatte, Einzelheiten über den internen Konflikt erzählt. Zweimal sei Kevin in das Heim gebracht worden, beide Male nicht vom Jugendamt, sondern von der Polizei. Im November 2004 war Kevin – damals gerade zehn Monate alt – nachts um ein Uhr völlig verwahrlost mit der betrunkenen Mutter im Hausflur angetroffen worden. Nach einer Woche habe das Jugendamt verfügt, dass Kevin zurück zu den Eltern soll.

Ein Jahr später, am 13. November 2005, kam die Polizei wieder mitten in der Nacht mit Kevin an. Die Mutter war zu Tode gestürzt, „Fremdverschulden nicht ausgeschlossen“, hatte die Notärztin notiert. Der Vater, der beim Sturz dabei war, wurde in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Das Kind hatte in dem ganzen Jahr gerade 500 Gramm zugenommen und wog acht Kilo, sagt der Heimleiter, „schon das ist alarmierend“. Das Kind war apathisch, kontaktscheu, sprach nicht, weit zurückgeblieben. „Wir hätten gern geklärt, was mit dem Kind los ist“, berichtet der Heimleiter, und er ist sicher: Wenn der zuständige Case-Manager des Jugendamtes gekommen wäre und sich das Kind angesehen hätte, dann hätte er das verstanden. Aber der Case-Manager kam nicht, rief nur an und verkündete, der Vater werde am 22.11. aus der Klinik entlassen und unmittelbar danach das Kind abholen.

Der Heimleiter widersprach heftig, aber alles, was er erreichen konnte, war eine Woche Aufschub – am 28.11. holte der Vater das Kind ab. „Das war für mich nicht nachvollziehbar“, erinnert sich Pape, denn „selbst ein normaler Vater wäre bei dem Zustand des Kindes überfordert gewesen“. Bestürzt formulierte er einen Bericht an den Träger des Heimes, einen privaten Verein, in dessen Kuratorium der Bürgermeister sitzt – so empört sei er gewesen, „welche Zustände in dieser Stadt herrschen“. Denn, so Joachim Pape, jahrelang hatte das Heim rund hundert Fälle von „In-Obhut-Nahmen“ von Kindern pro Jahr, 2005 dann nur 44. „Wo sind diese Kinder? Ist plötzlich alles gut?“ Papes Verdacht: Das Jugendamt hat seine „Politik“ geändert.

Den Verdacht teilen andere private Träger. Seit Monaten führen sie Verhandlungen über die Zahl der vorzuhaltenden Plätze – unter anderem für Kinder in Notfall-Situationen. Die Vertreter des Sozialamtes würden da erklären, Bremen brauche nicht so viele Plätze – der Beleg seien die Zahlen von 2005, heißt es.

Die Auseinandersetzungen im Jugendhilfeausschuss um die „Budgets“, die eingehalten und nicht durch steigende „Fallzahlen“ überschritten werden dürfen, füllen Aktenordner. „Die Zahl der Fremdplatzierungen darf nicht gesteigert werden“, heißt es unmissverständlich in einem Papier der Sozialsenatorin vom 1.8.2006. Indem das Jugendamt den kleinen Kevin wieder in die Obhut des Vaters gegeben hat, hat es nur diese sozialpolitische Vorgabe umgesetzt.

Jens Crueger von den Grünen forderte gestern eine „sofortige Krisenintervention“ und die Überprüfung aller Fälle, in denen eine fachliche Kontroverse um die Unterbringung eines Kindes stattgefunden hat.

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