: Grillen im Rundfunk
ARMENIEN-PERFORMANCE Im Prinzip hat Bremen ja eine erstaunlich große armenische Gemeinde – aber erst das Leipziger Performance-Kollektiv Intermedia Orkestra hat ihr in der Schwankhalle mit „Broadcasting Eriwan“ eine Bühne verschafft
Lukas Bugiel, Intermedia Orkestra
VON JENS FISCHER
Gedeckt ist der Tisch. Aromen von mariniert Gegrilltem und Verbranntem würzen die Luft. Bier, Brause und Wodka locken zum Besäuseln. Historische Radiogeräte fönen dazu ein anregend jazziges Unterhaltungsprogramm mit südosteuropäischen Folk-Verweisen. Das Publikum sitzt an einem XXXL-Tisch – mittig eingelassen: ein Rundfunkstudio.
Darin spielt ein Kammerquartett des Leipziger Intermedia Orkestras Radio Eriwan – auf der Suche nach Radio Eriwan. War das eine reale Institution in der armenischen Hauptstadt Jerewan, eine Verschwörung oder die Initialzündung für freie Radios? Ist das ein Hirngespinst? Orkestra-Gründer Lukas Bugiel spielt auch Musik – mit den Kellerrockern „A cat called Odessa“.
Deren Schlagzeuger Rostom Oganian ist Armenier, erklärt Bugiel zur Geburtsstunde des „Broadcasting Eriwan“-Konzeptes. So wurde die Band nach Armenien in Glendale/Kalifornien eingeladen. Die armenische Diaspora-Gemeinde – vor allem in den USA, Russland, Frankreich – ist fast dreimal so groß wie die Bevölkerung daheim: Nur etwa drei Millionen Menschen leben in Armenien, davon fast die Hälfte in Jerewan.
Nach den Konzerten wurden Bugiel, Oganian & Co. stets zu großfamiliären Feiern eingeladen: „Riesige Tische, über und über mit Essen gedeckt, überall hingen Bilder von Armenien, es wurde die Schönheit des Landes gepriesen, obwohl die meisten nie dort waren, ständig gab es Trinksprüche und dazu Wodka.“ Feiern sei ein Befehl, kein Angebot gewesen. „Wir haben Radio-Eriwan-Witze erzählt, aber keiner hat gelacht.“
Trotzdem sei man „eingemeindet“ worden – in die Inszenierung eines Heimatgefühls. Bugiel: „Zum Beweis und ganz ohne Ironie erhielten wir ein Diploma of Excellence and Superstars, ein schönes Schriftstück mit Siegel.“ All die dazu absolvierten Gelage sollten nun als „intermedialer Raum zwischen Theater und Fest“ zur Kunst gerinnen. Ohne sich groß mit Stimmbildung/Sprechtechnik zu beschäftigen und mit wenig überzeugender Videoprojektion wird im launigen Plauderstil über die USA-, dann über eine Armenien-Reise berichtet: Recherche der Wahrheit hinter den Radio-Eriwan-Witzen.
„Auf die“, so Bugiel, „ist man dort sehr stolz, schließlich ist das international das einzige, was von Armenien bekannt ist“ – neben dem Völkermord: Die jungtürkische Regierung hatte während des Ersten Weltkriegs Massaker und in Todesmärsche mündende Deportationen von ArmenierInnen veranlasst.
Die Leipziger aber fragten: Hat es wirklich Mitte der 1960er-Jahre im staatlichen Rundfunk Armeniens ein Sendung gegeben, in der die widersprüchliche Rhetorik erfunden wurde? Diese Art, auf naiv-konkrete Fragen aus dem vermeintlichen Volk vermeintlich seriös-kompetent zu antworten, was als kabarettistische Pointe gegen Korruption, Parteikader, Mangelwirtschaft und geistige Unterdrückung rezipiert werden konnte und das kommunistische System in Gänze infrage stellte. „Andererseits“, so Bugiel, „könnte diese Art Witz eine Geburt aus der Zeit des Poststrukturalismus im Westen sein“, der ja in den 1960er-/70er-Jahren Diskontinuitäten und „ein neues Zaudern als authentische Haltung“ gepriesen habe.
Schön ist, dass solche Dissertationsthemen performativ nicht weiterverfolgt wurden. Aber gab es konkrete Ergebnisse? Mehr als ein angebliches Jingle der einstigen Witzesendung habe der Chef des staatlichen armenischen Radiosenders nicht vorweisen können, so Bugiel: „Ob Radio Eriwan also eine Erfindung kritischer Geister ist oder wirklich existierte, bleibt für uns unaufgeklärt.“ Und er fragt so: Gibt es einen Unterschied zwischen den sowjetischen Gewerkschaften und Radio Eriwan? Im Prinzip ja, Radio Eriwan existiert nicht, aber man spürt seine Tätigkeit.
Diesem „Spürzustand“ forschten die Leipziger in Armenien nach. Das weiterhin recht isoliert ist: Die Grenzen zur Türkei sind aufgrund des Streits um die Anerkennung des Genozids zu, mit Aserbaidschan gibt es nur einen Waffenstillstand im Krieg um Berg-Karabach, Iran und Georgien sind auch nicht gerade Freunde. „Armenisches Theater ist konventionell“, weiß Bugiel zu berichten, interessanter sei die Kunstszene: „Wir haben ein Radio-Eriwan-mäßiges Kollektiv kennengelernt, die kamen zum öffentlich gefeierten Geburtstag des Parlaments, hatten für den Präsidenten einen selbst gebackenen Kuchen mitgebracht, auf dem ,Verpiss dich‘ stand.“
Lustig!? Ernsthaft gecastet hat Bugiels Team schließlich drei Expertinnen des armenischen Alltags, zwei Schriftstellerinnen und eine Journalistin, die mit nach Deutschland flogen und nun mit den Leipzigern die Uraufführung in der Bremer Schwankhalle „kollektiv“ geschrieben und inszeniert haben.
Bremens armenische Gemeinde, etwa 200 Familien, stellt die Grillmeister des Abends. Es gibt Kartoffeln mit Käsekruste und Hühnerfleisch mit Gemüse, und entweder versucht man die Nährmittel unfallfrei in den Mund zu transportieren, die Geschmacksstoffe zu genießen – oder man lauscht der Performance. Beides gleichzeitig funktioniert nicht.
Vielleicht wirkt „Broadcasting Eriwan“ deshalb aus zu vielen Exkursen hektisch zusammengestückelt und bleibt, ohne Vorkenntnisse, kaum inspirierend nachvollziehbar. Was hat Radio Eriwan überhaupt mit Bremen zu tun? „Die Protestkultur“, betont Bugiel – und daher werden auch die Demonstrationen im friedensbewegten 1980 anlässlich des Gelöbnisses im Weserstadion sowie die Tram-Schienenbesetzungen 1968 mit Hörfunkreportagen (aus dem Radio-Bremen-Archiv) thematisiert.
Auch in Armenien wurde schließlich unter heftigen Protesten versucht, den Ticketpreis von 100 auf 150 Dram zu erhöhen. Und 2008 kam es zu erheblichen Protesten, bei denen viele Demonstranten starben. Grund: „Dort werden Wahlen immer torpediert“, erklärt Bugiel. „Das funktioniert so: Man geht mit dem Smartphone in die Wahlkabine, macht ein Foto von seiner Stimmabgabe, schickt es an die entsprechende Partei und bekommt dafür 5.000 Dram. Das entspricht 8,71 Euro. Das ist bei einem durchschnittlichen Monatsgehalt von 100 Euro sehr viel.“ Nach den Auseinandersetzungen sei übrigens Youtube jahrelang nicht erreichbar gewesen in Armenien, weil dort Videos unerwünscht öffentlich gemachter Staatsgewalt zu sehen waren.
Solche flimmern nun auf Leinwandgardinen – sowie frisch gedrehte Zeitzeugenstatements aus Bremer Revoluzzertagen. Konsens scheint: Radio Eriwan sei Symbol für grundsätzliches Infragestellen. Das fördere den Wunsch, sich erst mal zu „zerstreuen“, so Katja Barloschky. Weswegen den Zuschauern auch Torten serviert werden, auf denen steht: „Zerstreut euch“ – statt: Empört euch!
Nur noch am 12. & 13. 4., Beginn jeweils 20 Uhr