„Dann schrien die Kinder: Nazi!“

HEIMAT Brüssel stand in ihrem Leben für Versöhnung, sagt Ursula von der Leyen. Sie wuchs dort auf – und will Europa schützen. Ein Gespräch über Sozialmodelle und ihr Shetlandpony

■ Die Frau: Ursula von der Leyen wurde 1958 als drittes von sieben Kindern in Brüssel geboren. Heute lebt sie mit ihren eigenen sieben Kindern, ihrem Mann und ihrem pflegebedürftigen Vater, dem ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, in Burgdorf-Beinhorn bei Hannover.

■ Die Politikerin: Seit 1990 ist Ursula von der Leyen Mitglied der CDU. Als erste deutsche Verteidigungsministerin setzt sie in der Krimkrise auf eine starke Rolle der Nato. Das Verhältnis zu Russland sieht sie langfristig beschädigt.

GESPRÄCH ANJA MAIER
FOTOS CHRISTIAN THIEL

sonntaz: Frau von der Leyen, Sie sind in Brüssel geboren und aufgewachsen, jener Stadt, die heute das Machtzentrum Europas markiert. Wie erinnern Sie sich an Ihre Kindheit?

Ursula von der Leyen: Das Brüssel meiner Kindheit war ein dörflicher Stadtteil mit ganz vielen Flamen. Aber auch Italiener, Franzosen, Wallonen und Holländer lebten dort. Sehr stark erinnere ich die Europäische Schule. Das war für mich einfach eine sehr glückliche und gute Zeit.

Ihr Vater hatte in Brüssel verschiedene Aufgaben. Mit Mitte dreißig wurde er Attaché bei der Montanunion, einer Vorläuferorganisation der EU. Als Ihre Familie 1971 nach Deutschland ging, war er Generaldirektor für Wettbewerb bei der EWG-Kommission. Haben Sie damals als sein Kind etwas so Abstraktes wie den europäischen Gedanken verstanden?

Ja, und zwar als täglich gelebte Selbstverständlichkeit. So wie jedes Kind, das in Deutschland aufwächst, zunächst einmal deutsch fühlt, so habe ich europäisch gefühlt. Für uns Kinder war dieses Europa Heimat. Mein Vater strahlte bei uns zu Hause auch sehr stark aus, wie es ihn erfüllt, an diesem Europa zu arbeiten. Das ist auch bei meinen Brüdern so haften geblieben.

Wie drückt sich das aus?

Durch eine lebenslange innere Liebe zu dem Phänomen Europa. Das Gefühl, wir gehören zusammen, Europa ist beschützenswert, etwas, das wir erhalten und weiterentwickeln wollen. Mein Vater hatte die Schrecken des Krieges noch mitbekommen. Sein Vater war Arzt, und mein Vater hat ihn im letzten Kriegsjahr als Jugendlicher begleitet und geholfen, die verletzten Menschen aus den Kellern herauszuholen. Seitdem beherrschte ihn ein Gedanke: Frieden durch ein gemeinsames Europa. Und deshalb stand in meinem Leben Brüssel für Versöhnung und Gemeinsamkeit.

Als Sie eingeschult wurden, war der Zweite Weltkrieg erst zwanzig Jahre her. Haben Sie und Ihre Geschwister, die sieben Albrecht-Kinder, Anfeindungen als Deutsche erlebt?

In 99 Prozent der Fälle nicht. Aber ich erinnere mich, dass wir Kinder in unserem flämischen Dorf manchmal zankten. Dann schrien die Flamen: „Nazi!“, und wir haben zurückgeschrien: „Flaamse Kaaskopp“. Das war die höchste Stufe der Beleidigung.

Sie haben in Brüssel eine Europäische Schule besucht. Was ist das genau?

In der Europaschule waren alle Kinder von der ersten bis zur zwölften Klasse zusammen. Holländer, Franzosen, Italiener und Deutsche, später auch Engländer. Man fing an in der ersten Klasse mit Französisch, und die Franzosen lernten Deutsch. Ich erinnere mich, dass wir angefangen haben mit kleinen Filmen, weil wir noch nicht lesen und schreiben konnten. Noch heute weiß ich das: „Der Junge gibt der Katze Milch.“ Le chat, le lait, daran erinnere ich mich gut. Wir haben die Sprache eher getrunken als gelernt. Bald hatten wir mit den Franzosen Kunstunterricht und mit den Holländern Sport. Später kamen Geografie und Geschichte zusammen mit anderen Nationen dazu. Das Hauptaugenmerk war: mehrere Sprachen lernen und mit den unterschiedlichen Nationen zusammen bis zum Abitur gehen.

Die Selbstbeschreibung der Europaschulen klingt ziemlich elitär. Ich zitiere mal: „Die Schüler werden Europäer – geschult und bereit, die Arbeit ihrer Väter vor ihrer Zeit zu vollenden und zu festigen …“

… da fehlen ja schon mal die Mütter. Also diese Zeit haben wir hinter uns.

War Ihnen der hohe Anspruch Ihrer Schule damals bewusst?

Nein. Wir sind einfach Kinder gewesen. Aber im Rückblick weiß ich, dass wir aus dieser Zeit ganz viele Freundschaften mit in unsere Leben genommen haben. Heute findet man einstige Mitschüler überall. Unsere gemeinsame Schulerfahrung ist ein enormes Bindeglied. Viele sind dieser Grundhaltung sehr treu geblieben: Wir leben selbstverständlich europäisch und können viele nationale Debatten gar nicht nachvollziehen.

Wie sah Ihr Schultag aus?

Wir wurden morgens von Bussen abgeholt. In der Schule hatten wir vier Stunden Unterricht, mit kurzen Pausen dazwischen. Dann gab es gemeinsames Essen im Réfectoire und eine große Pause. Nachmittags gab es Hausaufgabenbetreuung, wir waren in einem Saal, machten unsere Hausaufgaben, und es war jemand dabei, der aufpasste, dass Ruhe herrscht. Nachmittags hatten wir Kunst, Musik oder Sport in gemischten Klassen. Ich kann mich komischerweise gar nicht erinnern, welche Sprache wir da gesprochen haben. Das zeigt, wie spielerisch das ablief. Und dann waren die Schulbusse wieder da, und um halb fünf, fünf waren wir wieder zu Hause.

Was war im Rückblick das Beste an Ihren Brüsseler Jahren?

Ich hatte ein dickes weißes Shetlandpony. Das habe ich geliebt. Das war so hoch wie breit. Mit dem bin ich durchs Brüsseler Arboretum geritten. In meinen Kinderaugen war das ein gigantischer Wald. Ich glaube, wenn ich heute dort hinginge, wäre das ein gepflegtes kleines Wäldchen.

1971 ging Ihre Familie nach Niedersachsen. War das ein Bruch?

Ich kann mich noch an unser Erstaunen erinnern, als wir in die deutsche Schule kamen. Da gab es plötzlich Sachen wie Stundenausfall. Das war schon beeindruckend: Die Schule hörte mittags auf. Meine Eltern waren entsetzt, wie wenig Zeit für gutes Lernen da war und wie unzuverlässig die deutschen Schulen waren. Es gab damals für jedes Geschwisterkind unterschiedliche Anfangs- und Abholzeiten. Meine Mutter hat das immer auch als Rücksichtslosigkeit ihrer eigenen Zeitplanung gegenüber empfunden. Sie war zwar als Hausfrau zeitlich flexibel. Aber dass die Schule einfach voraussetzt, dass sie ihr Leben darauf einstellt, dass irgendwann irgendeines ihrer Kinder zu Hause vor der Tür steht, hat sie gekränkt.

Sie waren damals 13 Jahre alt. Wie haben Sie das verkraftet?

Ach, das war damals für meine Familie eine schwere Phase. Meine Schwester war gerade gestorben, und Gott sei Dank wurde mein jüngster Bruder geboren. Das waren die dominierenden Ereignisse, nicht die Schule oder der Umzug.

Frau von der Leyen, zu Beginn unseres Gesprächs haben Sie sich als selbstverständliche Europäerin beschrieben. Der europäische Gedanke – was ist das?

Das sind zwei Dinge. Das tiefe Grundgefühl, dass wir Werte miteinander teilen und füreinander einstehen. Dann die wunderbare Kultur, die wir miteinander teilen. Von der griechischen Mythologie über den römischen Rechtsstaat, die Geschichte der Aufklärung in Europa, Musik, Literatur, das europäische Sozialmodell – das ist anders als das asiatische Sozialgefüge oder das amerikanische. Ich habe mit meiner Familie leidenschaftlich gern in den USA gelebt. Aber ich habe da auch die andere Seite gesehen: Du bist jung, du bist gesund, du bist gut ausgebildet. Wenn das nicht so wäre – wärest du wirklich so gerne hier? Ich wollte dort nicht krank werden, nicht arm und abhängig und nicht alt und hilfebedürftig. Das europäische Sozialmodell ist absolut schützenswert.

Sie sprechen soziale Verlässlichkeit an. Gerade da ist ja in der Eurokrise etwas ins Kippen geraten, etwa in Südeuropa. Ist Europa für die Menschen dort verlässlich?

Soziale Verlässlichkeit muss jeden Tag von der Gemeinschaft erarbeitet werden. Die fällt ja nicht vom Himmel. Die Basis für jeden Sozialstaat ist, dass die Menschen bereit sind, dafür auch hart zu arbeiten. Unsere Generation, die mittlere, arbeitet, damit die Kinder und die Älteren über die Runden kommen. Aber wir verlassen uns darauf, dass die nächste Generation das auch macht. Wenn sich Löcher auftun, können wir die nicht ewig mit geliehenem Geld stopfen. Darum geht es in der Eurokrise. Unsere Sozialsysteme können wir auf Dauer nur finanzieren, wenn wir alle im gemeinsamen Währungsraum hart arbeiten, innovativ sind, Produkte auf den Markt bringen, wettbewerbsfähig sind. Europa hat alle Chancen, das zu schaffen.

Die Euroskepsis wächst, auch in Deutschland, wo von der Krise kaum etwas zu spüren ist. Können Sie diese Skepsis gar nicht nachvollziehen?

Null. Stellen wir uns doch nur mal für einen Moment vor, das wäre alles nicht da. Die deutschen Grenzen wären zu, wir hätten Zölle und Visa. Wir hätten eine Währung, die enorm aufgewertet wäre; unsere Unternehmen hätten große Probleme im Export. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir in anderen europäischen Ländern reisen, studieren, arbeiten, könnte man streichen. Sämtliche Auseinandersetzungen zu Fragen wie Asyl, Grenzen, Flüchtlingen müssten ausschließlich national gelöst werden. Ja, Europa ist manchmal anstrengend und funkt überall rein. Aber diesen Preis zahle ich gern für all die Freiheiten, die wir durch Europa gewonnen haben.

Das wiegt es auf?

„Meine Eltern waren entsetzt, wie unzuverlässig die deutschen Schulen waren“

Ja. Um ein Vielfaches.

Die Skepsis der Bürger, gerade vor der Europawahl, speist sich aber auch aus der Erfahrung, dass Europa übergriffig wird, Brüssel unser Leben diktiert.

Das sehe ich ganz anders. Ich verstehe Europa als lernende Modernisierung. Wir merken im Alltag der anderen, was funktioniert. In der familienpolitischen Debatte vor einigen Jahren zum Beispiel hat mir der Blick zu unseren Nachbarn geholfen, in die skandinavischen Länder. Ich habe gesehen, es geht, dass Männer und Frauen selbstverständlich gleichberechtigt Beruf und Familie teilen. Oder der Blick nach Frankreich. Dort gibt es schon in frühen Jahren Ganztagsschulen, und es geht den Kindern nicht schlechter als bei uns. Bei der Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit haben uns die Holländer vorgeführt, wie man mit Tempo und schnellen Angeboten verhindert, dass sich Arbeitslose und Behörden mit dem Zustand abfinden. Ich bin nach London gefahren und habe dort von den Engländern gelernt, wie die den Mindestlohn richtig gemacht haben. Nach einem sehr ähnlichen Modell, wie er nun bei uns Gesetz wird. Von uns Deutschen lernen Europäer, dass duale Ausbildung nichts Minderwertiges ist, im Gegenteil. Das sind Dinge, wenn man die sich mal bewusst macht: Gäbe es Europa nicht, wäre dieser Austausch viel schwieriger.

Warum muss Europa, warum muss die EU weiter wachsen? Wachstum ist doch ein Fetisch des 20. Jahrhunderts.

Ich glaube, das ist im Augenblick gar nicht der Trend. Die Eurokrise hat uns doch gelehrt, dass wir zunächst die gemeinsame Integration vertiefen müssen. Dass Wachstum an sich kein Selbstzweck sein darf. Deshalb ist die Debatte im Augenblick auch nicht eine Erweiterung der Union. Sondern eher: Wie können wir uns so aufstellen, dass Europa widerstandsfähig ist gegen die Herausforderungen einer globalisierten Welt?

Haben Sie schon mal mit Angela Merkel darüber gesprochen, dass Sie einander ohne die Einigung Europas vermutlich nie begegnet wären?

Nein, das haben wir nicht. Aber die deutsche Wiedervereinigung wäre ohne das Zusammenwachsen Europas damals nicht möglich gewesen. Wir sind das Volk – das war der Impuls, der das Ende der DDR eingeläutet hat. Aber die Zwei-plus-vier-Verträge haben gezeigt, dass Europäer mit den USA und Russland eine solch aufgeladene historische Situation gemeinsam regeln können. Diesen Vertrauensvorschuss dürfen wir den Alliierten nie vergessen. Die haben uns nach dem Krieg die Hand gereicht, in Europa gleichberechtigtes Mitglied zu sein, obwohl wir Deutschen für die Zerstörung Europas die Verantwortung trugen. Und dann noch einmal, als sie die Wiedervereinigung so konstruktiv begleitet haben.

Reden Sie mit Ihren Kindern über Ihre persönlichen Europa-Erfahrungen? Das ist doch ein bisschen, wie vom Kaiser erzählen, oder?

Wir reden viel darüber. In der letzten Legislaturperiode war ja die Eurokrise sehr präsent. Sie fragten ständig nach, was ist da eigentlich los. Das tut mir auch für meinen Job in der Politik gut. Den Kindern muss ich in relativ einfacher Form diese komplexen Zusammenhänge erklären. Und zwar schnell und bündig – eine Stunde hören die nicht zu. Das trainiert mich immer wieder, zum Wesentlichen zu kommen und nicht irgendwelche komplizierten Schleifen zu drehen, die nicht den Kern treffen.

Müssen unsere Kinder dankbar sein für Europa?

Ach, ich weiß nicht, ob jüngere Generationen immer für irgendwas dankbar sein müssen. Wir haben in unserer Jugend auch als Selbstverständlichkeit hingenommen, was wir an Frieden und Bildung mitbekommen haben. Wenn man älter wird, dann merkt man plötzlich, dass man die Generation ist, die das Ganze trägt. Und dass unsere Kinder die Generation sind, die sich irgendwann die Frage stellen muss: Verlieren wir das, was wir als selbstverständlich hinnehmen – oder arbeiten wir dafür, dass es bestehen bleibt? Und an dem Punkt realisiert man doch erst, wie hoch der Wert Europas ist.

Anja Maier, 48, ist Parlamentskorrespondentin der taz

Christian Thiel, 51, ist freier Fotograf in Berlin