„Im Stadion geht doch nix“

Eine Studie macht einen Rückgang von Gewalt und Rassismus in deutschen Fußballarenen aus. Der Fremdenhass ist dabei freilich nicht kleiner geworden, er sucht sich bloß neue Wege und Orte

AUS BERLIN LARS JESCHONNEK

Alfred Sengle stand leicht gebückt, musste sich mit der rechten Hand auf dem Rednerpult abstützen. Es sah aus, als sei er über Nacht um Jahre gealtert. Es war der Morgen nach Bratislava. Vor rund zwölf Stunden hatte der Sicherheitschef des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) „in vorderster Front“ mit angesehen, wie deutsche Hooligans nach dem Länderspiel in der slowakischen Hauptstadt randalierten.

Das Finale der auch aus sicherheitspolitischer Sicht guten Weltmeisterschaft war vor 95 Tagen abgepfiffen worden. Seitdem hatte sich Sengles Welt sehr verändert. Asamoah, Kahé, Ogungbure, Makkabi Berlin, Bratislava. Rassismus, Antisemitismus und Gewalt waren in die Stadien zurückgekehrt. „Die Realität des Alltagsfußballs hat uns nach der glanzvollen WM eingeholt“, sagte Sengle bei der Präsentation einer Studie über „Gewalt im Sport“ in Berlin.

Der Hannoveraner Sportwissenschaftler Professor Gunter Pilz hatte im Auftrag des Bundesinstituts für Sportwissenschaft von Anfang 2004 bis Ende 2005 die „Wandlungen des Zuschauerverhaltens im Profifußball“ untersucht. Mit überraschendem Ergebnis: Pilz und seine fünf Mitarbeiter fanden bei ihren Interviews und „Beobachtungen im Feld“ heraus, dass offen sichtbares und hörbares rassistisches Verhalten in deutschen Stadien zurückgegangen ist. Verschwunden ist es deshalb noch lange nicht.

„Rassismus wird niemals ein Thema sein, das wir völlig im Griff haben“, stellte der Professor klar. Die Fremdenfeindlichkeit sei subtiler geworden. So müssten ausländische Spieler oftmals mehr leisten und würden schneller kritisiert als deutsche.

Zudem konstatierten die Forscher eine Verlagerung von Rassismus und Gewalt in den „öffentlichen Raum“, in Busse und Züge, sowie in die unteren Ligen. Der Grund: Dort ist die soziale Kontrolle nicht so groß wie im bezahlten Fußball.

„Im Stadion geht doch heute nix mehr wegen der ganzen Kameras und der vielen szenekundigen Beamten“, erklärt Thorsten Weber (Name geändert). Der 38-Jährige gehört zur „Adler-Front“, einer Gruppe Hardcore-Fans von Eintracht Frankfurt.

Für Professor Pilz ist Weber ein „Hooltra“, eine Mischung aus Hooligan und Ultra. Als Hooligans definiert Pilz dumpfe Schläger, denen der Sport selbst egal ist. Ultras hingegen sind grundsätzlich friedfertige Anhänger, die ihren Verein bis zur körperlichen und finanziellen Erschöpfung unterstützen.

„Mir ist es schon wichtig, dass die Eintracht gewinnt. Ich fahre doch nicht 500 Kilometer weit, nur um mich zu prügeln“, sagt Weber, der linke „Hooltra“. Im Osten sei das anders. Dort gehe es verstärkt um die Randale allein.

„In den neuen Bundesländern bekennen sich viele Ultras offen zur Gewalt“, hat auch Pilz herausgefunden. Der Hintergrund: eine fehlende soziale Perspektive, eine Selbstwahrnehmung als Wendeverlierer sowie mangelnde finanzielle Möglichkeiten von Vereinen und Städten für sozialpädagogische Fan-Projekte. Der Forscher, dessen Empfehlungen auch im Sicherheitskonzept der WM 2006 beachtet wurden, fordert: „Es muss gelingen, einen Dialog zwischen Vereinen, Verbänden, Polizei und Fans in Gang zu bringen.“

Genau das ist die Aufgabe von Michael Gabriel, dem Leiter der Koordinationsstelle Fan-Projekte (KOS). Die vom DFB und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend getragene Einrichtung berät die lokalen Fan-Projekte bei deren Versuch, die verschiedenen Gruppen an einen Tisch zu bringen.

Das Problem: Medien, Vereine, Verbände und Polizei sind für viele Ultras rote Tücher. Sie stehen für die Kommerzialisierung und „Eventisierung“ des Spiels beziehungsweise die Entrechtung der Fans. „Man sollte die Bedürfnisse der Fans ernst nehmen“, rät KOS-Chef Gabriel. „Viele Konflikte sind nur auf mangelnde Kommunikation zurückzuführen.“

In den letzten fünf Jahren aber habe man Fortschritte gemacht, erzählt Gabriel. Beim DFB-Pokalendspiel 2002 in Berlin und beim Finale des Confederations Cups 2005 in Frankfurt am Main demonstrierten je 2.500 Ultras aus ganz Deutschland friedlich für ihre Belange und kamen mit Vertreten des DFB und der Deutschen Fußball-Liga (DFL) ins Gespräch.

Der DFL-Fanbeauftragte Thomas Schneider wünscht sich derweil mehr Unterstützung seitens der Politik: Die Fan-Projekte in Lübeck und Jena mussten aufgeben, weil das Bundesland Schleswig-Holstein und der Freistaat Thüringen die Zuschüsse von je rund 15.000 Euro jährlich einstellten. „Dabei wäre langfristige sozialpädagogische Arbeit dort bitter notwendig. Einstellungen lassen sich nicht durch einmalige Aktionen verändern“, erklärt Schneider.

In einer Woche wird dem Rassismus in allen Stadien der ersten und zweiten Bundesliga symbolisch die rote Karte gezeigt. Eine schöne Aktion. Solche „Sportfreunde“ aber wie jene Anhänger von Lokomotive Leipzig, die sich bei einem Spiel gegen die Cottbuser Reserve im Fanblock zu einem Hakenkreuz formierten, wird das allein kaum zu netten Menschen machen.