Eine frühe Theoretikerin der Exklusion

Weil kein Mensch überflüssig werden darf: Im Denken von Hannah Arendt spielt die Transformation der sozialen Frage eine zentrale Rolle. Aber auch angesichts von Migration und Vertreibung sprach sie schon früh von dem Unrecht, staatenlos zu sein. Das Problem hat sich verschärft. Eine Aktualisierung

von WALTRAUD MEINTS-STENDER

Weltweit leben eine Milliarde Menschen in Slums, ohne reguläre Arbeitsverhältnisse, ohne jegliche Zukunftsperspektive – Straßenhändler, Tagelöhner, Kindermädchen, Prostituierte, Menschen, die ihre eigenen Organe zur Transplantation verkaufen. In Europa werden täglich mehr als 50.000 Menschen arbeitslos, viele davon bleiben es auf Dauer. In Deutschland ist die Zahl der in Armut lebenden Kinder inzwischen mit 2,5 Millionen zehnmal höher als bei älteren Menschen. Migrationsexperten schätzen für Deutschland etwa eine Million so genannte illegale Flüchtlinge, die ohne politische und weitgehend soziale Rechte leben müssen.

Man kann diese Aufzählung beliebig fortsetzen. Menschen, die keine reguläre Arbeit, wenig Geld, keinen Ausweis, keine Ausbildung, keine ausreichende medizinische Versorgung haben. In den Sozialwissenschaften wird, bezogen auf diese Sachverhalte, von einer neuen Qualität der gesellschaftlichen Spaltung gesprochen, die man mit den Begriffen der Exklusion, der Ausgrenzung, und der „Überflüssigkeit“ wachsender Bevölkerungsgruppen zu umschreiben versucht. Für alle diese „Überflüssigen“ stellt sich die Inklusion in die gesellschaftlichen Funktionssysteme – und sei es in der Form sozialer Ausbeutung – als Privileg dar.

Es gehört zum Standardrepertoire der Kritik von „links“, dass man Hannah Arendt vorwirft, sie habe kein begriffliches Sensorium für die soziale Frage gehabt. Umso mehr mag es erstaunen, dass es ausgerechnet Arendt war, die den Begriff der Überflüssigkeit ins Zentrum ihrer Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen stellte. Sie ist eine kritische Theoretikerin der sozialen Exklusion avant la lettre. In den zahlreichen Würdigungen der Philosophin anlässlich ihres 100. Geburtstags wird dies unterschlagen. Man hebt ihr emphatisches Verständnis des Politischen und ihren Republikanismus hervor, betont dabei aber zugleich, dass sie über ihre Zeit hinaus wenig Relevanz habe, dass ihr Demokratiekonzept elitäre Konsequenzen enthalte, dass sie bei aller Radikalität ihrer These vom Ende der Arbeitsgesellschaft ratlos geblieben sei, und dies nicht zuletzt, weil sie dualistisch das Soziale vom Politischen getrennt habe. Altbekannte Vorwürfe gegen Arendts politische Philosophie, auf die noch einmal einzugehen nicht lohnt.

Viel interessanter ist die Frage, an welchen Stellen in Arendts Werk sich Ansatzpunkte für produktive Aktualisierungen zeigen. Ihr Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ bietet da eine Fundgrube: Im Zentrum steht die These von der Weltlosigkeit durch Überflüssigkeit. Im Überflüssigmachen von immer mehr Menschen sah Arendt die größte Gefahr und das größte Übel der modernen Gesellschaft. Bereits in ihrer Imperialismus-Studie, dem wenig gelesenen zweiten Teil von „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, erkennt sie, dass es die funktionale Irrelevanz, die Exklusion aus allen gesellschaftlichen Funktionssystemen ist, die Menschen in den entmenschenden Status des „Überflüssigseins“ wirft. In diesem Zustand ist selbst noch jene Verbundenheit aufgekündigt, die zwischen Ausbeuter und Ausgebeutetem besteht. Dies ist die Situation, die wir heute erleben. Nicht nur in den Peripherien, sondern auch in den Zentren des globalisierten Kapitalismus. Hannah Arendt hatte sie in ihrem Versuch, die totalitären Gefahren der modernen Gesellschaft zu begreifen, bereits klar vor Augen.

Es gibt sowohl graduell verschiedene als auch in ihrer Prozesslogik heterogene Formen des Überflüssigmachens. In der beispiellosen Vernichtungspraxis der Nazis wird die politische Strategie der Exklusion einer Gruppe von Menschen zum Exzess getrieben. Die Totalexklusion der Juden stellt zweifellos die in ihrer Grausamkeit radikalste Form des Überflüssigmachens dar. Sie gipfelt in der Auslöschung menschlichen Lebens. Aber auch alle anderen Formen des Überflüssigmachens zeichnen sich dadurch aus, dass sie – wenn auch in unterschiedlichem Grad – menschliche Subjektivität irreversibel beschädigen. In den „Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft“ umkreist Arendt immer wieder diese Konstellationen der Überflüssigkeit. Auf eine sei hier wegen ihrer unverminderten Aktualität näher eingegangen: das Problem der Staatenlosen.

Bereits nach dem Ersten Weltkrieg bevölkerte eine Vielzahl von Staatenlosen Europa, die außerhalb aller Gesetze standen und dort, wo sie Aufnahme fanden, auf Duldung angewiesen waren. Als „displaced persons“ hatten sie buchstäblich keinen Platz mehr in der Welt, keinen Ort, wo sie hingehörten. Arendt nennt diesen Zustand „weltlos“, ja, er ist für sie geradezu ein Inbegriff von „Weltlosigkeit“. Der Staatenlose gehört keinem politischen Gemeinwesen, keiner menschlichen Gemeinschaft mehr an. Er wird seines Bezugs zur Welt gewaltsam beraubt, reduziert auf die nackte Existenz, und dadurch in den „Naturzustand“ zurückgeworfen.

Staatenlose verkörpern die Paradoxien des Nationalstaats, so wie sich diese im 20. Jahrhundert noch weiter zugespitzt haben. Sie stehen außerhalb der nationalen Rechtsgemeinde, sind jedoch innerhalb der nationalen Staatsgrenzen gegenwärtig. Aufgrund ihrer Nichtanerkennung als Staatsangehörige sind sie, so Arendt, nur noch Menschen. Hier wird sichtbar, dass sie als solche nicht nur durch nichts geschützt sind, sondern buchstäblich nichts sind: Mangels Staatsbürgerschaft von der Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten ausgeschlossen, sind sie auch ihrer Freiheit, ihrer rechtlichen Gleichstellung mit anderen und ihrer menschlichen Würde beraubt. Arendt spricht in diesem Zusammenhang von der „Aporie der Menschenrechte“.

Die Realität totaler Herrschaft, die Arendt vor Augen hatte, brachte diese Aporie katastrophal zur Erscheinung. Sie zeigt, dass der moralische Hinweis auf die Fortexistenz des Menschenrechts beim Verlust der Staatsbürgerschaft nicht nur unzureichend, sondern tatsächlich zynisch ist: „Es ist sinnlos, Gleichheit vor dem Gesetz für den zu verlangen, für den es kein Gesetz gibt.“ Auf diesen gesellschaftlichen Zynismus reflektiert Arendts Forderung nach „einem einzigen Menschenrecht“, nämlich dem „Recht, Rechte zu haben“.

Diese Forderung artikuliert eine radikale Kritik an allen existierenden Formen des Staatsbürgerrechts. Sie impliziert nämlich nicht nur die Entkoppelung des Staatsbegriffs von dem der Nation, sondern darüber hinaus die Konstitution einer transnationalen Staatsbürgerschaft, die jedem Menschen das Anrecht auf Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen garantiert. Und dies ist auch heute noch eine politische Aufgabe von höchster Dringlichkeit.

Im Zeitalter globaler Migrationsströme, von Flüchtenden und Arbeitssuchenden, kann der Erwerb der Staatsbürgerschaft weder auf das Territorial- noch auf das Abstammungsprinzip, sondern allein noch auf die Partizipation an einem politischen Gemeinwesen und am Alltag der Zivilgesellschaft gründen. Hannah Arendt hat dies bereits vor 50 Jahren erkannt. Gegen essenzialistische und substanzialistische Identitätskonzepte im Bereich des Politischen postuliert sie ein Konzept von Bürgerrecht, das universelle Menschenrechte politisch garantiert. Das gemeinsame Merkmal von Staatenlosen und Flüchtlingen, von Verfolgten, die ihrer Staatsbürgerschaft beraubt wurden, und Gefangenen, die in Konzentrationslagern interniert sind, besteht eben in ihrer faktischen Rechtlosigkeit. Sie überantwortet diese Menschen dem Naturzustand, anders gesagt: der Barbarei.

Der Staatenlose präsentiert die Krise der Menschenrechtsdeklaration nicht weniger als die der traditionell im Singular gedachten und auf die menschliche Natur reduzierten Idee der Menschheit. Für ihn gibt es keine Instanz, bei der er das Menschenrecht für sich einklagen könnte. Der Menschheit gehört er nicht mehr zu, weil er keiner politischen Gemeinschaft mehr angehört. Darin aber zeigt sich, dass die Menschheit als regulative Idee der Menschenwürde allein darin besteht, dass die Menschen an den Dingen der Welt Anteil nehmen können, dass sie also – so Arendt – die Möglichkeit haben, „im Zusammenleben durch Sprechen, und nicht durch Gewalt, die Angelegenheiten des menschlichen und vor allem öffentlichen Lebens zu regeln“.

Wenn es schließlich stimmt, dass die ökonomische und technologische Globalisierung nicht nur durch eine im Weltmaßstab rapide anwachsende soziale Ungleichheit und eine historisch einmalige Raum-Zeit-Verdichtung charakterisiert ist, sondern zeitgleich die nationalstaatlichen Institutions- und Identitätsformationen zu unterminieren beginnt, dann stellt sich heute die dringende Frage, wie denn die politische Gemeinschaft beschaffen sein muss, die unter diesen Bedingungen in der Lage ist, das Recht, Rechte zu haben, zu garantieren. Darauf Antworten zu finden, gehört zu den Herausforderungen unserer Zeit. An Arendt wird man dabei nicht vorbeikommen.

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaften und dem Hannah-Arendt-Zentrum der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg