: Die Rückeroberung der Barrios
Stadt & Migration: beispielsweise Barcelona. Das Zentrum wird immer schicker. Das ganz schlichte Leben, aber vor allem Armut und mittellose Migranten passen nicht ins Bild der aufgehübschten Metropole. Eine Tour durch die Altstadt mit dem Anthropologie-Professor Manuel Delgado
VON EDITH KRESTA
Manuel fährt uns auf den Hügel von Toró de la Rovira und Barcelona liegt uns zu Füßen. Von hier oben hat man einen fantastischen Blick auf die Stadt, die sich immer weiter die Küste entlang schlängelt. Hier, außerhalb des Zentrums in großen Wohnblocks, wohnten einst die Migranten aus den ländlichen Regionen Spaniens. Auch Manuels Familie kam in den 60er-Jahren von Andalusien nach Katalonien. Migranten aus dem Süden, die den Flamenco bei den Katalanen heimisch machten. „In den Stadtvierteln herrschte damals ein starkes Gemeinschaftsgefühl“, erzählt Manuel. Heute soll die lukrative Höhe neu bebaut werden. „Wer wird wohl hier wohnen?“, fragt Manuel suggestiv. Und antwortet selbst: „Die gehobene Mittelklasse. Es wird ein schickes Viertel werden, denn der Blick hier ist erste Sahne.“ Auf diese schicken Barrios ist der Professor für Anthropologie an der Universität Barcelona nicht gut zu sprechen. Manuel ist Mitglied des Migrationsausschusses im katalanischen Parlament und hat mehrere Bücher über Stadtentwicklung geschrieben. Er zeigt uns sein Barcelona. Toró de la Rovira ist ein Zone des Übergangs. Und solche Zonen gibt es reichlich in Barcelona.
Jedes Jahr kommen vier Millionen Touristen in die katalanische Hauptstadt im Nordosten Spaniens. Barcelona lockt mit einem ganzjährigen milden Klima, Kunst, Musik und einer außergewöhnlichen Architektur. Barock-, Gründerzeit- und Jugendstil-Bauwerken prägen das Stadtbild – und natürlich die Bauten des Antonio Gaudí, mit dem das Touristenamt kräftig wirbt. Jedes Jahr kommen aber auch tausende Migranten nach Barcelona. Übers Mittelmeer aus Afrika, aus Rumänien oder Bolivien. „Städte sind durch Migration entstanden. Es wird Migration immer geben. Sie wird gebraucht. Auch die illegale Migration ist gewollt“, behauptet Manuel.
Manuel führt uns durch das Altstadtviertel Born. Dem temperamentvollen Professor fällt an jeder Ecke eine neue Geschichte ein. Nicht weit vom Picasso-Museum durchstreifen wir einen kleinen Park. Den haben sich die Bewohner des Barrios – viele Migranten aus der Dominikanischen Republik und ältere Menschen – nach heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei zurückerobert. Im Auftrag der Stadtverwaltung sollte dort eine Tiefgarage entstehen. Die Abrissarbeiten hatten 2001 begonnen. Doch die Bewohner wehrten sich: Die Bagger wurden gestoppt und die bereits entstandene Baulücke wurde „Forat de la Vergonya“ (Loch der Schande) getauft und von den Bewohnern als Park angelegt. Heute spielen hier Kinder, die Alten sitzen auf Bänken. Manuel wird überall gegrüßt. Er ist bekannt hier. Viele Künstler, Kunsthandwerker und sonstige Kreative haben sich in den letzten Jahren im restaurierten Teil des Altstadtviertels Born niedergelassen.Vorbei an Galerien, Bars und Shops schlendern wir in das anschließende Barrio Gótico mit seinen Plätzen, Palästen und verwinkelten Gassen. Es ist die repräsentative Mitte der Stadt, rechts der Rambla in Richtung Plaça de Catalunya. Manche schicke Etablissements, wo wir gerne anhalten würden für ein Bier oder ein Wasser scheut Manuel wie der Teufel das Weihwasser.
„Tourist – you are the terrorist“ steht auf einer Häuserwand. Die Stadt hübscht sich auf für Touristen und Investoren. „Die Zukunft dieser Viertel ist das Designer-Label“, sagt Manuel. „Alles, was spontan und lebendig ist, soll hier raus. Inklusive die Armut.“ Die Wohnungspreise in Barcelona sind mit der Stadtsanierung, die mit den Olympischen Spielen 1992 begann, stark gestiegen. Die Folgen: Mieterhöhungen, Kündigungen und der Abriss von Häusern, in denen die Mieter schon ein ganzes Leben wohnten. Gleichzeitig stehen viele Häuser in der Altstadt leer. Sie sind zugemauert. Aus Angst vor Besetzern. „Wenn wohnen Luxus ist, ist besetzen ein Recht“, steht an einem besetzten Haus. Wie die zahlreichen Hausbesetzer (Okupas) kritisiert Manuel die Immobilienspekulation und Korruption im lukrativen Geschäft der Altstadtsanierung.
Das ehemaligen Barrio Chino, das heute Raval heißt, schwankt zwischen schick und marode. Wir gehen vorbei an besetzten Häusern, auf der anderen Straßenseite ein neuer Designerladen, gleich daneben vernagelte Türen und Fenster. Das Raval ist und war der Stadtteil der Migranten, aber auch der Dealer, Prostituierten und Kleinkriminellen. Hier gibt es den pakistanischen Fleischer, daneben das Wettbüro und einen Afroshop. Eine ethnische Armutsökonomie. Hier gibt es auch Wohnungen, die warme Betten (camas calientes) vermieten – wenn der eine aufsteht, legt sich der andere hinein.
An der Calle Robadores hängen tagsüber Prostituierte, Dealer, Arbeitslose rum – die meisten sind Migranten. Die aufgerissen Baugrube direkt an der Straße kündet schon die neue Zeit an. „Wenn es hier schick wird, müssen sie im nächsten heruntergekommen Viertel irgendwo eine Bleibe finden“, sagt Manuel. Das Raval soll repräsentativ werden. Abends ist es das beliebteste Ausgehviertel der Stadt mit neuen Bars – dann ziehen sich die Prostituierten und Dealer zurück. Die Straßen Doktor Dou und Angeles repräsentieren mit Galerien, Shops und Cafés das neue Leben im Raval. Und dem müssen viele der alten Bewohner weichen: „Der Kampf der Politik gegen die Arbeiter oder die Armen ist, sie zu zerstreuen. Heute gibt es keine typischen Viertel mehr. Die Viertel der Armen sind unsichtbar“, sagt Manuel.
Aber was ist dagegen einzuwenden, wenn ein heruntergekommenes Viertel saniert wird? „Nichts“, findet auch Manuel, „aber es gibt keine soziale Politik. Es ist eine Politik der Vertreibung, des schönen Scheins, der heuchlerischen Harmonie.“ Betroffen von dieser Politik sind die Ärmeren, die Alten und vor allem Migranten. „Anstatt von Klassen zu sprechen, spricht man dann von Kulturen“, kommentiert Manuel beim Kaffee in einer kleinen Bar, wo ein junger Inder hinter dem Tresen steht. Die Migranten sind für ihn das unsichtbare Arbeitskräftereservoir: „Die illegale Migration ist gewollt. Sie kommen, weil sie Arbeit finden. Es gibt eine wirtschaftliche Abhängigkeit von dieser informellen Ökonomie und viele verdienen daran.“
Migranten sind billige Arbeitskräfte. Überall auf Barcelonas Baustellen sieht man Schwarzafrikaner. Sie helfen dabei, die Stadt zu transformieren: in schöne Stadtteile zum Einkaufen und Konsumieren. „Barrios, die absolut austauschbar und leblos sind.“ Manuel Delgado ist unversöhnlich in seiner Wut auf eine saturierte Stadt, die das Unerwünschte ausgrenzt. „Der neue Klassenkampf geht ums Überleben und ein würdevolles Leben. Das Verbrechen vieler Migranten ist, dass sie existieren.“ Manuel nennt die Politik heuchlerisch, die den öffentlichen Raum mit Luxussanierungen durchkommerzialisiert.
Was dabei auf der Strecke bleibt, ist für ihn das Leben. Oder Orte wie das Centenario in der Calle Juicio final 5, im Hafenviertel von Barcelona. Ein kleines, unauffälliges Lokal mit Plastiktischdecken und einem ewig plärrenden Fernseher. Maria kocht und serviert. Die Gambas, Sardinen und Muscheln, die sie in großen Platten auf den Tisch stellt, schmecken köstlich. Ein erstklassiges Restaurant und trotzdem bezahlbar. Ein unangestrengter Ein-Frau-Betrieb, der in einem schicken Viertel nicht mithalten könnte. Allein der hohen Miete wegen.
Das Problem mit den zu hohen Mieten haben die illegalen Verkäufer nicht, die abends ihre gefälschten Prada-Täschchen für 20 Euro vor dem Kaufhaus Corte Inglés an der Plaça de Catalunya anbieten. Sie gehören zu den Unsichtbaren. Die meisten sind Migranten aus Afrika. „Schnell, schnell“, sagt der junge Nigerianer mit dem schönen Lächeln, der uns ein super Angebot macht. „Die Polizei kann jeden Moment kommen.“ Die Migranten werden regelmäßig von der Polizei vertrieben. Repressive Maßnahmen zwischen Duldung und Gewalt. Ein Versteckspiel, das sich Abend für Abend irgendwo in Barcelona wiederholt.