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Archiv-Artikel

Karthartisches Autorecycling

POP-ABWEICHUNG Von schwer verdaulich bis Ohrwurm: „Xiu Xiu“ stellen ihr Album „Dear God, I Hate Myself“ vor. Dazu gibt’s Glo-Fi mit „Former Ghosts“ und Shoe-Goth mit Zola Jesus

Musikalisches Anti-Fast-Food für wagemutige Klang-Gourmets

VON ROBERT MATTHIES

Schwer verdaulich und Geschmackssache war immer schon, was Jamie Stewart mit seinem Projekt „Xiu Xiu“ auf Platten und Bühnen serviert hat: radikal normabweichende, stilistisch kaum fassbare und mitunter brutal-verzweifelte musikalische Selbsterfahrungstrips, experimentell-avantgardistisches Genre- und Autorecycling, schrille theatralisch-pathetische Kakophonie oder narzisstisch-autobiografischen Sound-Solipsismus irgendwo zwischen düsterem Post-Punk, New-Wave-Kitsch, Art-Pop und großem Orchester. Musikalisches Anti-Fast-Food für wagemutige Klang-Gourmets – die jedes neue Menü des offen bisexuellen 32-Jährigen und seiner derzeit dreiköpfigen Kombo begeistert feiern.

Dass auch das nunmehr siebte Studio-Album der kalifornischen Kathartiker mit dem expliziten Titel „Dear God, I Hate Myself“, das sie heute Abend auf Kampnagel präsentieren werden, keine Ausnahme macht, wird schon im Video zum titelgebenden Song sichtbar: regelrecht die Seele aus dem Leib kotzt sich darin Stewarts neue Mitstreiterin Angela Seo – und zwar nicht im übertragenen Sinn –, während der mit immer mehr Regurgitiertem besprenkelte Stewart daneben genüsslich Schokolade isst.

Dabei ist es nicht zuletzt auch der Einfluss der neuen Multiinstrumentalistin und Programmiererin, die „Dear God, I Hate Myself“ zum zugänglichsten „Xiu Xiu“-Album bislang macht: richtige Ohrwürmer hat das Trio sogar mit „Chocolate makes you happy“ und „This too shall pass away (For Freddy)“ auf der abwechslungsreichen Karte, programmiert unter anderem mithilfe von Videospielen und auf Konsolen wie der Nintendo DS, auf der ein Großteil der Songs diesmal geschrieben wurde.

Dass Jamie Stewart es bisweilen sogar noch poppiger mag, macht heute Abend auch die Vorband deutlich: „Former Ghosts“, das neue Projekt des Elektronik-Komponisten und -Produzenten Freddy Ruppert. Der hat für sein zwischen Cold Wave, Super-Mario-Sounds und derzeit in den USA so angesagtem „Glo-Fi“ respektive „Hipstergogic Pop“, „Shitgaze“ oder „Chillwave“ – etwa: 70er-Käse-Pop- oder 80er-Fernsehserien-inspirierter Lo-Fi-Homerecording-Sound – changierendes Debüt „fleurs“ nämlich unter anderem Stewart und die blutjunge Shoe-Goth-Diva Nika Roza Danilova aka Zola Jesus gewinnen können. Und die stehen mit ihm auf der Bühne.

Letztere gibt sich schließlich auch solo die Ehre: eine ausgebildete Opernsängerin mit „Joy Division“, Dostojewski und Nietzsche im Kopf und im Herzen.

■ Do, 4. 11., 20 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20