: Glaube und Privatwehwehchen
Die armen, armen religiösen Gefühle. Warum will bloß niemand mit ihnen spielen?
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht öffentlich von religiösen Gefühlen die Rede ist, und immer ist der Inhalt der Meldungen, dass diese religiösen Gefühle verletzt wurden. Als aufgeklärter säkularisierter Mensch am Beginn des 21. Jahrhunderts fragt man sich schon, ob es nicht Nachrichten von größerer Dringlichkeit und Wucht gibt. Fällt denn in China gar kein Sack Reis mehr um? Man kommt aus dem Wundern und Staunen nicht mehr heraus: Das religiöse Gefühl, das doch eine reine Privatangelegenheit ist, wird öffentlich breit und breiter getreten.
Was ist ein religiöses Gefühl, und wo im Menschen ist es angesiedelt? Wo sitzt es genau? Man weiß es nicht, auch der aufschnippelnde Anatom wird nichts finden, aber immerzu erklären schnaubende, schäumende Menschen, sie seien in ihren religiösen Gefühlen verletzt worden. Es scheint also zum Wesen des religiösen Gefühls zu gehören, dass es im Aggregatzustand der beleidigten Leberwurst daherkommt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Träger dieses Gefühls sich als Christ oder als Muslim empfindet – in der Hauptsache ist er verletzt. So ein religiöses Gefühl ist offenbar äußerst praktisch für Menschen, die gern verdrossen, übellaunig und wütend sein möchten.
Anlass der Wut ist bevorzugt die Kunst; eine respektlose Karikatur oder eine Operninszenierung, die aus gutem Grund kaum jemand freiwillig angesehen hat, erhitzen allein auf Basis von Gerüchten die Gemüter. Ich kann schlechte Kunst so wenig leiden wie schlechtes Essen oder schlecht gespitzte Bleistifte; auch die Kunst ist ein Lebensmittel, und Gammel sollte man sich nicht zufügen. Die öffentlich vorgetragene Abneigung aber resultiert ja eben nicht aus dem Widerwillen gegen stümpernde Zeichner oder Regisseure, sondern allein aus der Behauptung, schon wieder sei das religiöse Gefühl ganz schlimm verletzt worden. Dieses Geheule ist unmännlich und memmenhaft; früher überließ man Gefühle dieser Preisklasse den Betschwestern und alten Jungfern dieser Welt. Heute wollen Millionen von „Wir sind Papst“-Jahrmarktschreiern und muslimischen Bartträgern mitflennen. Das müssen sie wissen – weiter ernst nehmen muss man öffentlich ausgestellte Privatwehwehchen aber nicht.
Doch jener Teil der medialen Öffentlichkeit, der noch jede Sau durchs Dorf treibt, wenn Auflage, Quote und das Gefühl persönlicher Bedeutung dabei herausspringen könnten, ist beim Händeringen nicht nur dabei, sondern vorneweg. Im Zusammenhang mit der Absetzung einer Operninszenierung las man kürzlich auf der Seite eins der taz: „Keine Frage, der Islamgipfel ist ein historisches Ereignis.“ Denn, so erfährt man weiter: „Der Gipfel war mehr als nur ein Fototermin.“ Wenn alles, was mehr als ein Fototermin ist, zum historischen Ereignis wird, gibt es täglich ein paar Milliarden historische Ereignisse. Der Wunsch nach Wichtigkeit hat schon manchen Journalisten seiner Restgrütze beraubt.
Feridun Zaimoglu, bekennender gläubiger Muslim und im Schlepptau von Günter Grass 2005 als Reklameonkel für die Sozialdemokratie vollends zur Seife geworden, verkündete zur selben Zeit und ebenfalls in der taz: „Ich plädiere für die Freiheit der Kunst, doch mit religiösen Gefühlen sollte nicht gespielt werden.“ Da taten mir die religiösen Gefühle plötzlich richtig leid. Keiner soll mit ihnen spielen? Das ist gemein, so gemein, hundsgemein. Auch religiöse Gefühle fangen ja klein an; man muss sich nur vorstellen, dass sie von allen anderen Kindern gemieden und geschnitten werden – höchstens patriotische, vaterländische, nationale Gefühle, mit denen kein vernünftiger Mensch etwas zu tun haben möchte, spielen noch mit den ihnen nahe verwandten religiösen Phantomgefühlen. Das wäre doch fies, oder?
Deshalb gilt: Haben wir Mitleid, zeigen wir Mitgefühl – spielen wir mit religiösen Gefühlen. Sie sind zwar nicht besonders helle und meistens auch ziemlich langweilig, aber wir sollten sie schon aus eigenem Interesse nicht der ihnen innewohnenden Humorlosigkeit überlassen. Spielen wir mit religiösen Gefühlen wie mit Körperteilen, die wir besonders gern mögen. Dameln und dölmern wir mit religiösen Gefühlen herum – anders werden ihre stolzen Besitzer niemals lernen, dass auch der schönste Glaube keine Legitimation dafür ist, andere Menschen zu belästigen. WIGLAF DROSTE