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Archiv-Artikel

Erst kommt das Gesicht, dann der Schwanz

Beim Berliner Kongress „Post Porn Politics“ ging es um Pornografie, die nicht kommerziell zugerichtet ist. Doch auch Internet-Chats heben die Tristesse kalter Bilder nicht auf

Die Vielfalt und Spezialisierung der menschlichen Lüste ist unglaublich, sehr beeindruckend und manchmal auch schlicht verstörend

In der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ging es am Wochenende um „Post-Porn-Politics“. Dabei sollte ein Jenseits dessen sichtbar werden, was als kommerzielle Mainstream-Pornografie so spießig, fantasielos und normativ daherkommt. Den Veranstaltern aus dem queer-schwul-lesbisch, auch akademischen Umfeld ging es darum, Pornografie – als Praxis und Film – wieder emanzipatorisch zu besetzen; Möglichkeiten einer authentischen Pornografie aufzuzeigen; das Obszöne, das die Mainstream-Pornografie vernichtet, zurückzugewinnen.

Der Kongress begann am Samstag gegen Mittag und war sehr gut besucht. Viele der Besucher studierten, glaube ich, Kulturwissenschaften. Alles wurde auf Englisch referiert. Englisch eignet sich auch besser fürs Sprechen über Sexuelles – schon weil viele im Deutschen pejorativ besetzten Wörter auf Englisch wertneutral sind. Die Berliner Theoretikerin Katja Diefenbach hatte ihren Vortrag schon begonnen. Es ging um „Dyed in white. On fetishistic repetition, commodity and body experience“. Als wir uns gesetzt hatten, fielen schon die Namen meiner Lieblingstheoretiker Deleuze und Guattari. Ich verstand nicht viel von dem, was sie meinte; es war aber angenehm, ihr zuzuhören, fast wie Ambientmusik, in der Namen wie Walter Benjamin, Giorgio Agamben oder Lewis Caroll nach kleinen Themen klangen. Und ich überlegte beim Zuhören, ob – wie eine schottische Freundin behauptete – tatsächlich die meisten Frauen in Deutschland rasiert sind und was für Schlüsse daraus zu ziehen wären.

Dann kündigte der Veranstalter und Performancekünstler Tim Stüttgen den Filmemacher Todd Verow an: „And now, all the way from New York: Todd Verow!“ Die radikalen, authentischen Filme (u. a. „Frisk“, „Little Shots of Happiness“, „Vacationland“) des 40 Jahre alten schwulen Undergroundregisseurs sind teils autobiografisch, oft gewalttätig, verzweifelt, depressiv und immer auch sexuell sehr explizit. Momente des Glücks sind eher rar, bei Sexszenen spielt er auch selber mit.

Seltsam, dass sein „How to shoot sex scenes and become a porn star“ betitelter Auftritt so optimistisch schien. Zu Beginn sagte er: „I’m a bit shy – so let’s do it naked.“ Der Raum war ohnehin total überhitzt. Aber nur eine schöne Frau, die eher am Rande auf einem Treppenabsatz saß, zog sich auch aus und lag dann verträumt mit geschlossenen Augen da. Während man die Nacktheit von Verow (der Schuhe und Strümpfe anbehalten hatte) beim Zuhören fast vergaß, irritierte mich die Nacktheit der jungen Frau, die ein interessanter Beitrag zum Kongress war.

Verow erzählte, wie er schon als Kind in Bangor, Maine, davon geträumt hatte, Pornostar zu werden, wie er sich erste Filme als Stricher finanziert hatte. Im Hintergrund liefen indessen melancholisch körnige SW-Filme, die er vor 20 Jahren gemacht hatte. Dann ging es um die ambivalenten sexuellen Revolutionen durch das Internet (sein Film „Anonymus“ handelt davon), die Website „Pornotube“ und Webcamsex: Schwule sitzen sich in Videochats gegenüber, onanieren und gucken einander dabei zu. Unbedingt solle man beachten: „Face first – then Dick“.

Die Bilder dazu wirkten etwas verstörend, weil man immer nur einzelne Männer in ihrer Lust sah und nicht die, auf die sich ihre Aktionen bezogen. Am Ende zog sich Verow wieder an, sagte „I’m more an exhibitionist“, und die Menschen lachten und klatschten erleichtert. Der holländische Komparatist Murat Aydemir hielt dann einen elegant wortspielerischen („let’s not forget: to cum means to go“) und hübsch dekonstrukturalistisch ausgearbeiteten Vortrag über „Ejaculatory Interpunction: the cum shot as period, ellipsis and question mark“; äußerst charmant erzählte der Expunk Bruce La Bruce von seinem Leben als Underground-Gay-Porn-Star und zeigte viele Ausschnitte – auch von seinem in Arthousekinos erfolgreichen Revolutionsfilms „The Raspberry Reich“, aus dem er auf Gerichtsbeschluss alle Ché-Guevara-Bilder entfernen musste.

Der Berliner Theoretiker und b_books-Herausgeber Stephan Geene theoretisierte dann vor allem über Beatriz Preciados „Kontrasexuelles Manifest“, in dem sie den Dildo als ein dem Penis vorgängiges Original propagiert – das Ei war also vorher da als das Huhn. Und am Ende der samstäglichen Theorieschiene sprachen Katrin Jacobs, Matteo Pasquinelli und Marije Janssen von ihren Forschungen über Internetpornografie. Sie hatten Internetpornobenutzer zum Gebrauch des Mediums befragt. Die Vielfalt und Spezialisierung der menschlichen Lüste ist unglaublich und sehr beeindruckend, wie das alles durchs Internet zusammenkommen kann.

Manchmal erinnerten die Forscher und Forscherinnen, die sich ihre Fragen auf den nackten Körper geschrieben hatten, an Schmetterlingssammler, die ihre seltenen Funde – besonders beeindruckend: die Subspezies der „morphing bears“ – einem interessierten Publikum präsentierten. Insgesamt war alles prima. Und zwar so sehr, dass man die nahe liegende Tristessse ganz vergaß, mit der bei Verow und in Bezug auf Internetpornos noch Sexsucht, Einsamkeit und kalte Bilder anstelle warmer Körper gesetzt worden waren.

„Shamanistic Porn“ kommt dagegen ohne Bilder aus, und pornointeressierten Idealisten sei übrigens die fuckforest.com empfohlen, deren hippieeske Aktivisten mit ihren Erlösen die Wälder retten wollen.

DETLEF KUHLBRODT