: Hier sind sie alle Opfer
Henrik Ibsens „Nora“ einmal anders. Generalintendant Klaus Weise erfindet am Bonner Theater ein neues Ende für den Klassiker. Das ist sein Beitrag zur aktuellen Feminismusdebatte
VON HEIKO OSTENDORF
Der selbstgefällige, kontrollsüchtige Obermacho-Ehemann wird am Ende zur männlichen Medea. Klaus Weise, der Generalintendant des Bonner Theaters, lässt in seiner aktuellen Inszenierung von „Nora oder Ein Puppenhaus“ die Hauptperson eine Wandlung vollziehen. Während Nora mit einer Axt die abgeschlossene Haustür zerlegt, erschießt Helmer in aller Seelenruhe die drei gemeinsamen Kinder. Für sich selbst ist keine Kugel mehr übrig. Blutüberströmt und verzweifelt liegt er auf dem kuschelig-weichen beigefarbenen Teppich.
Dies ist das vom Regisseur neu erfundene Ende einer Familie, deren Frau sich selbst finden und verwirklichen will; der real gewordene Alptraum des taufrischen Vorzeige-Hausmütterchens Eva Herman: Frauen, bedenkt die Folgen, wenn ihr Mann und Kinder hinter euch lasst! „Wer ist hier das Opfer?“, fragt man sich da unwillkürlich. Ist es wie üblich Nora, die Henrik Ibsen in seinem 1879 uraufgeführten Drama aus der ehelichen Hölle fliehen lässt, die dadurch Jahrzehnte später zur Emanzipationsikone wird? Durchaus. Aber was ist mit ihrem Mann? Ist der Rechtsanwalt und angehende Bankdirektor Helmer nur ein Täter, ein chauvinistischer Frauenunterdrücker?
Dass Weise kein Stück Frauenbewegung zeigt, wird schon früh klar. Xenia Snagowski suhlt sich als Nora in der Aufmerksamkeit, die ihr der Göttergatte entgegenbringt. Er ist ihr Paradies, ihre kleine Puppenstube. Nichts lässt daraufhin deuten, dass dieser Garten Eden in Wahrheit ein Gefängnis ist. Sie kokettiert mit der Notwendigkeit verheimlichen zu müssen, unerlaubterweise Geld ausgeliehen zu haben. Mit neckischen kleinen Seitenblicken zeigt sie, wie viel Spaß ihr das Versteckspiel macht. Wasserstoffblond im hochgeschlitzten roten sexy Kleid tänzelt sie, noch bevor ihr Mann sie dazu auffordert, von sich aus verführerisch über die Bühne, wirkt wie die jungen Frauen, die sich Spice-Girls gleich für die wahren Feministinnen halten, da sie die Männer fest in emotionaler Hand halten. Kämen nicht plötzlich ihre Geheimnisse ans Licht, diese Nora wäre nie aus dem Schlaf erwacht.
Dabei ist es an der Zeit aufzustehen. Weise verlagert die Handlung ins Morgengrauen der Emanzipation: den Übergang von den beschaulichen 1950er zu den revolutionären 1960er Jahren. Hierhin passt das Aufbegehren Noras als Startlinie für Alice Schwarzers Endlos-Marathon mit dem Ziel Gleichstellung von Mann und Frau. Modern in dieser Umgebung ist einzig die Ausstattung der Wohnung der Helmers durch Manfred Blößer. Hippes gekacheltes Farbchaos an den Wänden. Sessel und Sofa mit losen Polstern. Und eine Hifi-Truhe für den richtigen Sound. Aber statt Büstenhalter brennt hier nur ein betuliches Kaminfeuer. Die Ästhetik hat sich seit dem 19. Jahrhundert weiterentwickelt, nicht das Denken.
Dementsprechend kommt Yorck Dippes Helmer nicht von der Stelle. Alles um ihn herum wandelt sich. Selbst der anfangs ekelige geldverleihende Anwalt Krogstad (Ralf Drexler) wird am Ende ein Guter. Doch Helmer bleibt in der konventionellen Rollenverteilung von Frau und Mann verhaftet. Ein Ausbrechen ist für ihn scheinbar nicht möglich – es herrschen nicht die gesellschaftlichen Bedingungen dafür. Konsequent unerbittlich ist dieser Helmer daher bis zum Schluss.
Mit seinem überraschenden Ende offeriert Weise einen neuen Beitrag zur Feminismusdebatte. Hier sind sie alle Opfer: befreite Frau, verlassener Mann und tote Kinder. Das Ehedrama wird bei ihm – auch dank einer sich redlich um die psychologische Tiefe Noras bemühenden Hauptdarstellerin – zum naturalistisch anmutenden, urplötzlich hereinbrechenden Amoklauf, der aktuellen Zeitungsberichten entnommen sein könnte.
Sa, 21.10. 2006, 19:30 UhrInfos: 0228-778008