Barbara Bollwahn über ROTKÄPPCHEN
: Ich habe es wenigstens versucht

Wie es ist, zum Vorlesen nach Bayern zu fahren und bei der Rückkehr festzustellen, dass alles umsonst war

„Es nützt ja sowieso nichts.“ „Gibt’s nicht.“ „Geht nicht.“ Was habe ich das gehasst, früher im Osten. Und jetzt? Wer meint, dass diese Sätze nur im Sozialismus an der Tagesordnung waren, der irrt. Aber gewaltig. Zumindest in Bayern sind sie so verwurzelt wie ein zünftiges „Vergelts Gott“.

Das habe ich gemerkt, als ich in der Herzogstadt Vohburg an der Donau war, wo Agnes Bernauer 1435 als Hexe ertränkt wurde. Dort hat am Wochenende die Buchhändlerin etwas in der Stadtgeschichte Einmaliges gewagt. Sie hat die Ruhe am Tag des Herrn mit einem Literatur- und Lesefest gestört. Monatelang ist sie den Stadtoberen auf die Nerven gegangen, bis sie alle Genehmigungen zusammen hatte.

Dabei hatte sie ein durchaus unterstützenswertes Anliegen. Sie wollte etwas gegen die viel beklagte Leseunlust von Kindern und Jugendlichen tun. Ich habe meinen bescheidenen Beitrag dazu geleistet, indem ich aus meinem Jugendroman „Mond über Berlin“ gelesen habe.

Auf dem Marktplatz stand ein Festzelt, das sich schnell mit Besuchern füllte. Ein Kinderchor sang „’s Lesn kommt leider aus der Mod, seit jeder vo uns an Fernseher hot“ und „Vui Les’n macht g’scheit, und is net verkehrt“. Der Bürgermeister war gerührt und entschuldigte sich, dass er nicht so gut singen könne wie „die kleinen bayerischen Patrioten“. Er lobte die Hartnäckigkeit der Buchhändlerin und verlieh ihr eine silberne Stadtplakette. Immerhin hatte sie es sogar geschafft, den bayerischen Kultusminister Siegfried Schneider nach Vohburg zu holen.

Nach einem „Herzlichen Vergelts Gott“ sagte er, Dialektsprecher seien nicht dümmer als andere – obwohl das niemand behauptet hatte. „Sie können gerade Emotionen besser ausdrücken.“ Findsch och, kann ich da nur in meinem sächsischen Dialekt erwidern.

Eigentlich sollte ich in der Wasserwacht lesen, nur wenige Meter vom Marktplatz entfernt. Weil sich aber nur zwei Mädchen dorthin verirrt hatten und ein gelinde gesagt mäßig interessierter Lokalfotograf, beschlossen wir, die Lesung auf den Marktplatz zu verlegen. Zum Glück habe ich ein lautes Organ, sodass sich schnell eine illustre Runde aus Mädchen und Müttern versammelte. Ein behäbiger Mann quittierte meine Einladung zum Zuhören mit der Bemerkung, überhaupt keine Zeit zum Lesen zu haben. Weil ich das nicht gelten ließ, holte er sich ein Bier und nahm brav Platz. Er war nur leider so überarbeitet, dass er laut gähnen musste.

Am nächsten Tag las ich noch in zwei Schulen. Zuerst vor Schülerinnen der „Gnadenthal Mädchen-Realschule“ in Ingolstadt. Man mag von Geschlechtertrennung halten, was man will, aber die Mädchen haben interessiert zugehört, Fragen gestellt und sogar einige Bücher gekauft. Ihnen musste man das Lesen nicht nahe bringen. Bei den zwei neunten Klassen der Grund- und Hauptschule in Vohburg hingegen sah es anders aus. Das war eine richtige Herausforderung. Weil mein Jugendroman in einer Reihe erschienen ist, die für Mädchen konzipiert ist und die Hälfte der Anwesenden Jungs waren, entschloss ich mich, auch das Kapitel über die Party mit den „lustigen Zigaretten“ zu lesen, von denen man rote Augen bekommt. Das fanden sie immerhin lustig. Ob sie das nun zum Kiffen oder zum Lesen animiert, wird sich zeigen.

Erschöpft trat ich die Heimreise an. Kurz bevor der Zug in Berlin einfuhr, warf ich einen Blick auf den Fahrplan. Darauf hatte jemand mit Kugelschreiber einige Wörter notiert, anscheinend für ein Kreuzworträtsel. Sofort war klar, dass das jemand geschrieben haben musste, der nicht oder kaum liest. Die Hamburger Vergnügungsmeile Reeperbahn war zur Reberbahn verkommen. Da dachte ich, dass das blau-weiße Lesefest vielleicht doch nicht umsonst war.

Wenige Minuten später, als der Zug am Sitz des Aufbau Verlages vorbeirollte, überkamen mich Zweifel. In der Dunkelheit leuchteten die Buchstaben des altehrwürdigen Verlagshauses an der Fassade. Leider war ausgerechnet das V erloschen: Aufbau erlag. Es kann mir später niemand vorwerfen, ich hätte es nicht wenigstens versucht.

Fragen zur Mundart? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch GERÜCHTE