: Schottern und schlottern im Wendland
WENDLAND taz | „Castor schottern“: Der Slogan wurde zum Modewort des Antiatomprotestes – und zu einer großen Unbekannten. Denn dass, wie an diesem Sonntag, 4.000 Menschen an die Schienenstrecken wollen, um dort kollektiv das Gleisbett zu „entschottern“, das hat es im Wendland noch nicht gegeben. Innerhalb von zwei Monaten schaffte es die Kampagne bis ins Kanzleramt: Ende August hatte die taz über die Pläne der linken Szene berichtet. An diesem Wochenende nun verurteilte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Pläne höchstselbst: „Was so harmlos daherkommt, entschottern, das ist keine friedliche Demonstration, sondern ein Straftatbestand“, sagte die CDU-Vorsitzende. Wer sich am Sonntag im Wendland der Schienenstrecke näherte, bekam in den verlassenen Wäldern daher die die Staatsgewalt in voller Entfaltung zu spüren.
Auch Tadzio Müller. Der 34-jährige Vollzeitaktivist hat eine olivgrüne Jacke an und behält die Übersicht im unübersichtlichen Göhrdewald, einige Dutzend Meter entfernt von der Schienenstrecke. Tausende Menschen rings um ihn her haben versucht, die Schienen zu stürmen. Immer wieder. Jetzt redet Müller in knackigen Sätzen, seine Sprache ist pointiert. Er verfügt über das gewisse Dutschke-Pathos, wirkt sympathisch, undogmatisch, sexy. Tadzio Müller ist so etwas wie der Eventmanager einer ernst zu nehmenden Angelegenheit. Und diese Angelegenheit war der Test dafür, ob es wohl möglich ist, tatsächlich tausende Menschen zu neuen Formen zivilen Ungehorsams zu bewegen. Die Mobilisierung: geglückt. Die Pläne: zum Teil umgesetzt.
So einfach ist das nicht, denn mit aller Härte geht die Polizei gegen die Menschen vor, die sich westlich von Dannenberg der Schienenstrecke nähern. Sie stürmt mit Schlagstöcken auf die friedlich entgegenkommenden Atomkraftgegner zu, spritzt ihnen Pfefferspray ins Gesicht, setzt ohne Vorwarnungen Tränengas und Wasserwerfer ein, treibt auf Pferden die Menschen auseinander. Die Linie der Polizei: volle Eskalation. Die Antwort der Demonstranten: erstaunlich friedlich.
Auch Aktivist Tadzio Müller hat diese Härte zu spüren bekommen. Sein Knie ist taub vom Schlagstock, er humpelt jetzt. Es sieht so aus, als sei dieses Event vorbei. Es ist ein Event, das kein Event ist, sondern ein politisches Novum: „Mit dieser Kampagne ist es der radikalen Linken erstmals gelungen, eine ja durchaus auch militante Aktion massentauglich zu machen und doch gleichzeitig durchgängig friedlich zu halten“, sagt er zufrieden.
MARTIN KAUL
WENDLAND taz | Monika Tietke mag an den Bauern im Wendland die Entschlossenheit. „Früher in der Uni haben wir viel diskutiert und wenig gemacht“, sagt Tietke. Als sie dann Ende der 1970er erstmals von Berlin ins Wendland fuhr, um gegen Atomkraft zu demonstrieren, merkte sie schnell, dass es hier umgekehrt war: Die Bauern redeten nicht lange, sondern machten.
Sie, die Mathematikstudentin aus der Hauptstadt, verliebte sich in einen Wendländer und blieb. Heute ist sie Biobäuerin in Breese, dem Ort am Castor-Verladekran, und aktiv bei der Bäuerlichen Notgemeinschaft. Dieser Zusammenschluss von Landwirten ist Herz und Seele des antiatomaren Widerstands im Wendland. Und Tietke ist so etwas wie die Pressesprecherin der Bauern. Sie hat viel zu tun an diesem Wochenende.
Mit über 600 Traktoren sind die Landwirte zur Kundgebung auf den Acker zwischen Dannenberg und Splietau gefahren. So viele waren es noch nie. Doch nicht nur deshalb bekommen die Bauern dieses Mal noch mehr Beachtung als sonst. Am Samstagmorgen, wenige Stunden vor der Kundgebung, drängen sich Fotografen und Kameraleute um die hundert Maschinen, die sich beim Kreuzfeld in Klein Gusborn eingefunden haben. Die Journalisten stapfen durch den Matsch, suchen nach Motiven.
„Bitte nicht drängeln“, ruft ein Bauer. Sie drängeln trotzdem, denn die Bauern haben Besuch. Politiker und Politikerinnen wie Gregor Gysi und Claudia Roth sind gekommen, auch Prominente wie die Buchautorin und Moderatorin Charlotte Roche; Bela B. von den Ärzten steckt im Stau fest und lässt sich entschuldigen.
In Gummistiefeln wartet der Besuch darauf, auf einen der Traktoren zu steigen und zur Kundgebung chauffiert zu werden. Es gilt das Patenschaftsprinzip: Jeder Promi bekommt einen Landwirt. Bevor sie auf den Trecker steigen, reichen sie sich vor den Fotografen noch mal die Hände. „Ich verspreche, an dem Thema dranzubleiben“, sagt da etwa Grünen-Chef Cem Özdemir. „Die Aufmerksamkeit ist gut für uns“, sagt Tietke. Das mit den Promis habe sie das erste Mal gemacht.
Am Samstagabend, nach der Kundgebung, blockieren die Bauern eine der zwei Transportstrecken, auf denen der Castor rollen soll. Sechzig Trecker stehen quer, die Polizei filmt die Nummernschilder. Da ist der Besuch aus Berlin schon längst wieder zu Hause.
Ob die Bauern nicht Angst haben, von Gysi und Trittin benutzt zu werden? „Wir werden sehr genau hinsehen und prüfen, ob sie es besser machen“, sagt Tietke.
FELIX DACHSEL
WENDLAND taz | Keine Frage, die Oppositionsparteien im Bund möchten am Aufschwung der Anti-Atom-Bewegung teilhaben. Die Grünen müssen dazu allerdings ihr zwischenzeitlich angespanntes Verhältnis zu den Bürgerinitiativen wieder kitten. In der Elbe-Jeetzel-Zeitung, dem regionalen Blatt im Wendland, haben Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin und andere Parteigranden dies ganz öffentlich versucht: Sie haben eine Anzeige geschaltet: „Stopp Castor – Atomkraft Nein danke – Gorleben ist überall!“
Trittin erscheint zum Castor-Protest. Er war nicht immer erwünscht, wäre früher ausgepfiffen und beschimpft worden: In seiner Zeit als Bundesumweltminister musste Trittin selbst mehrere Castor-Transporte verantworten. 2001 warnte er vor Blockaden des Zuges, erklärte sie für „überflüssig“. Jetzt, so sagte er, gebe es gute Gründe, zu demonstrieren: Die schwarz-gelbe Regierung verlängere die Atomlaufzeiten und reiße damit den Konflikt wieder auf, „den wir mit unserem Atomausstieg weitgehend beigelegt hatten“.
Allerorten versuchten die Grünen, sich der Bewegung anzunähern. Die niedersächsische Landtagsfraktion der Grünen hält in Sichtweite der Castorstrecke eine öffentliche Sitzung ab. Fraktionschef Stefan Wenzel und die im Wendland beheimatete Europaabgeordnete Rebecca Harms eilen im Kreis Lüchow-Dannenberg von Termin zu Termin. Die eher linke Grüne Jugend sympathisiert mit den Castor-Schotterern.
Die Harmonie zwischen Grünen und der Bewegung ist neu. Als im Jahr 2000 die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Trittins Federführung den Atomkompromiss mit den Energiekonzernen aushandelte, kritisierten dies die AKW-Gegner rund um Gorleben scharf. Sie fühlten sich verraten. Viele Lüchow-Dannenberger traten in der Folge aus der Grünen-Partei aus. Und Wolfgang Ehmke, Sprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, bekräftigte noch vor Kurzem: „Dieser Vertrag mit den Konzernvertretern ist uns ein Dorn im Auge“. Denn er stoppe die Castoren nicht, sondern garantiere den störungsfreien Betrieb der Atomkraftwerke.
Bei der Kundgebung am Samstag legten Redner den Finger in die noch nicht ganz verheilte Wunde. Martin Lemke vom Republikanischen Anwaltsverein erinnerte nicht nur an Trittins Meinungswechsel zu Castortransporten. Er wies auch darauf hin, dass die Hamburger GAL im Frühjahr dagegen stimmte, dass die Bürgerschaft zur großen Menschenkette von Brunsbüttel nach Krümmel aufrief.
REIMAR PAUL