: Das Leben jetzt und früher
EINWANDERER Das Projekt „Real Time Nomads“ von Maja Weyermann ist parallelen Realitäten auf der Spur, in Kunsträumen, bei Händlern aus Thailand oder Pakistan und in einem Schöneberger Nagelstudio
VON HÜLYA GÜRLER
Es gibt unendlich viele parallele Realitäten. Während wir uns an einem geografisch ganz bestimmten Ort aufhalten, sind wir in der virtuellen Welt möglicherweise an einem ganz anderen Ort, in Kontakt mit Menschen auf einem anderen Kontinent. Vielleicht beschäftigen wir uns im Geiste mit vergangenen Zeiten, während wir im Hier und Jetzt etwa Blumen gießen. Hinzu kommt die allseits beschleunigte Mobilität und Fluktuation. Alles fließt ineinander und ist miteinander verwoben.
Eine Großstadt wie Berlin ist mit seinen vielen MigrantInnen – den modernen Nomaden – in unserer Vorstellung zugleich ein Stück weit Türkei, Polen, Sierra Leone oder Pakistan. Und erinnert dabei vielleicht an dasjenige Land von vor etwa 15 oder 30 Jahren, oder das, was wir denken, das es war. Dieser „Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Wahrnehmungen von Zeit und Ort“ widmet die Schweizer Künstlerin Maja Weyermann ein Kunstprojekt mit dem bezeichnenden Namen „Real Time Nomads“, das sich über verstreute Orte in der Stadt erstreckt. So ist auch der „Afro Asia Shop“ von Herrn Warrich, der in der Torfstraße im Wedding neben dem „Punjab Store“ und dem „Jamal Afro Shop“ liegt, Teil dieser Ausstellung.
Herr Warrich kommt gerade vom Beten aus der gegenüberliegenden Moschee und erzählt, dass ihm vor dreizehn Jahren Bekannte angeraten haben, afrikanische Produkte zu verkaufen. Damals gab es sehr wenige afrikanische Läden in Berlin, und so hat sich der 1980 aus Pakistan immigrierte Lehrer mit Kosmetika und Lebensmitteln wie Yams und Kochbananen ein kleines Geschäft aufgebaut.
Weyermann hat Herrn Warrich und sechs weitere migrantische LadenbesitzerInnen für ihr umfassendes audiovisuelles Projekt interviewt. „Mich hat interessiert, wer diese Menschen sind, bei denen ich täglich einkaufe.“ Sie setzte dabei einen Schwerpunkt auf die Erinnerungen an die Kindheit, um mit diesem Material und ihrer eigenen Imagination „Kindheitsräume“ zu konstruieren und in einer 3-D-Videoinstallationen umzusetzen. Diese sind in der Galerie uqbar in der Schwedenstraße, dem Neuen Berliner Kunstverein und dem Collegium Hungaricum Berlin zu sehen und in den jeweiligen Läden der Interviewten. Zugleich können die persönlichen Geschichten als kleine Hörstücke beim Spaziergang zu den jeweiligen Ausstellungsläden auf das Handy heruntergeladen werden, und sie sind dabei mit Musik aus Ungarn, Thailand oder der Türkei untermalt und um Informationen über den Punjab oder Sierra Leone ergänzt.
So kann man über Frau B. aus Szczecinek in Polen, der Besitzerin eines Biokosmetik- und Nagelstudios in Schöneberg, erfahren, dass die Wanduhr im Haus ihrer Großeltern an dem Tag aufgehört hat zu schlagen, an dem ihr Großvater starb. Der Vater von Frau Norachaipeerapat aus Bangkok hat für jedes seiner Kinder jeweils einen Stapel mit Münzen für Schulausgaben im Medizinschrank aufbewahrt. Damals hat Frau Norachaipeerapat ständig überprüft, ob eines ihrer Geschwister Münzen von ihrem Stapel genommen hat. Was diese nicht taten. Heute ist die Juristin und Germanistin Besitzerin eines florierenden Geschäfts in der Pankstraße mit thai-asiatischen Produkten.
Nach Parallelen zwischen dem früheren Leben der Interviewten und heute hat Maja Weyermann gesucht. Bei Frau Norachaipeerapat ist sie fündig geworden: Im hinteren Teil des Ladens hat diese einen kleinen thailändischen Imbiss eingerichtet. Ihre Eltern haben ebenfalls früher in Bangkok ein Restaurant betrieben.
Erst hat Frau Norachaipeerapat nicht verstanden, was die Künstlerin mit diesem Projekt beabsichtigte. Doch dann: „Ich finde das gut. Die Deutschen kennen Thailand nur aus dem Urlaub. Aber meine Erzählung ist ganz anders als das, was man in der Zeitung liest.“ Anders als das, was man mit Thailänderinnen hierzulande verbinde, nämlich Thai-Masseurinnen oder Prostituierte.
Dennoch ist es nicht einfach, genau zu benennen, worum es der Künstlerin mit diesem Projekt geht: Geht es um die Konstruktion von Realität? Um interkulturelle Begegnung in einer multiethnischen Stadt wie Berlin? Vermutlich um beides zusammen – sprich: um die individuelle Befangenheit in den eigenen Wirklichkeitskonstrukten, die auch der interkulturellen Begegnung eine Struktur vorgeben – nur hätte dafür ein einziger Ausstellungsraum genügt.
Auch das Kaffeehaus Szimpla in Friedrichshain ist Teil von „Real Time Nomads“. Und auch Herr Kiss, der Besitzer, hat zuerst nicht verstanden, was Maja Weyermann mit diesem Projekt beabsichtigt. In der Videoinstallation über ihn sind Zinnsoldaten zu sehen. Auf Anfrage erzählt Herr Kiss, dass sein Vater mit Zinnsoldaten gehandelt hat. Herr Kiss hat kaum Zeit für seinen Laden. Alle anderen Ladenbesitzer können, wenn sie wollen, neugierigen Besuchern mehr von sich erzählen.
■ Real Time Nomads im uqbar in der Schwedenstraße 16. Bis 20. November, Do.–Sa. 14–19 Uhr. Infos und Audio-Visuals auf www.real-time-nomads.com