: Nicht arm genug
Die Schwelle des Finanznotstandes ist in Berlin noch nicht erreicht, befindet das Bundesverfassungsgericht
AUS KARLSRUHE CHRISTIAN RATH
Klaus Wowereit kommt mit leeren Händen nach Berlin zurück. Das Bundesverfassungsgericht verweigerte dem Land gestern Sonderhilfen zur Sanierung des völlig überschuldeten Haushalts. Das Land sei weder in einer „extremen Haushaltsnotlage“, noch habe es bisher genügend Eigenanstrengungen unternommen, urteilten die Richter des Zweiten Senats.
Mehr als 60 Milliarden Euro betragen derzeit die Schulden des Stadtstaats. Das Land sieht sich deshalb in einer „Verschuldungsfalle“. Weil jedes Jahr mehr als zehn Prozent des Haushaltes nur für Zinsen ausgegeben werden müssen, könne sich Berlin kaum noch aus eigener Kraft sanieren. Im vergangenen Jahr betrug die bloße Zinslast Berlins 2,5 Milliarden Euro. Um sie zu bezahlen, mussten neue Schulden aufgenommen werden.
Berlin beantragte deshalb beim Bund Ergänzungszuweisungen, um sich zumindest teilweise entschulden zu können. Dreißig Milliarden Euro hätte Wowereit gerne gehabt. Doch der Bund lehnte ab, auch anderen Ländern gehe es nicht gut. Deshalb klagte Berlin 2003 beim Bundesverfassungsgericht.
Klaus Wowereit (SPD), der Regierende Bürgermeister, berief sich auf ein Karlsruher Urteil von 1992. Damals ordnete das Verfassungsgericht an, dass der Bund dem Saarland und Bremen in ähnlicher Lage helfen musste. Von 1994 bis 2004 flossen dann 8,5 Mrd. Euro an Bremen und 6,5 Mrd. Euro ans Saarland. Berlin verlangte nun Gleichbehandlung.
Doch unter dem Eindruck der allgemeinen Haushaltskrise hat Karlsruhe inzwischen die Anforderungen für Sanierungshilfen erhöht. Schließlich seien diese ein „Fremdkörper“ im Finanzsystem unserer Verfassung, so die Richter. Grundsätzlich müsse jedes Bundesland für sich selbst sorgen. Es könne nicht sein, dass der Bund nachträglich für die Folgen falscher Haushaltspolitik aufkomme. Auch zur Korrektur vermeintlicher Fehler im Länderfinanzausgleich dürften Sanierungshilfen nicht missbraucht werden. Wenn hier ein Land zu kurz komme, müsse der Ausgleich eben neu ausgehandelt werden.
Nur als „ultima ratio“ könne und müsse der Bund Sanierungsbeihilfen geben – wenn wirklich ein Land in seiner Existenz bedroht ist. Davon könne aber im Falle Berlins nicht die Rede sein. Das Land leide zwar unter zunehmenden Haushaltsengpässen, die jedoch noch nicht die Schwelle des Notstands erreicht hätten. In Anspielung auf Wowereits Werbespruch, das Land sei „arm, aber sexy“, sagte der Senatsvorsitzende Winfried Hassemer: „Vielleicht ist Berlin ja sexy, weil es gar nicht so arm ist.“ Bei vielen Kenngrößen sei die Lage Berlins jedenfalls nicht deutlich schlechter als die anderer Länder.
Kann Berlin nun also einfach die Zügel schleifen lassen, bis es dem Land richtig dreckig geht? Sicher nicht, denn anders als 1992 betonte Karlsruhe diesmal die Pflicht, sich selbst zu helfen. Zusätzliches Geld vom Bund kann es nur geben, wenn Berlin „alle ihm verfügbaren Möglichkeiten der Abhilfe“ erschöpft hat.
Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit sah das zwar erfüllt, denn es werde gespart, „bis es quietscht“. So sei der öffentliche Dienst in der Hauptstadt bereits um ein Drittel reduziert worden, und die verbliebenen Beschäftigten hätten auf acht bis zwölf Prozent Gehalt verzichtet.
Doch die Karlsruher Richter sehen noch einigen Spielraum. Ihr Vergleichsmaßstab ist Hamburg, ebenfalls ein Stadtstaat. Fast durchgängig – von der Polizei über Soziales und Bildung bis zur Kultur – gab Berlin mehr Geld für seine Aufgaben aus als Hamburg. Erst seit 2003, dem Jahr der Klage, nähere sich Berlin langsam dem Hamburger Ausgabenniveau. Auch bei den Einkünften könne Berlin mehr tun. Ein Verkauf des restlichen landeseigenen Wohnungsbestandes könne fünf bis sechs Milliarden Euro erbringen. Und auch eine Erhöhung der Gewerbesteuer auf Hamburger Niveau sei denkbar. Alles zusammengerechnet könne sich Berlin „mit großer Wahrscheinlichkeit aus eigener Kraft“ vor dem Ruin retten.
„Dieses Urteil ist einstimmig ergangen“, betonte Richter Hassemer gestern. Andere Länder könnten also davon ausgehen, dass diese Maßstäbe auch in Zukunft gelten. Ein deutlicher Wink an das Saarland und Bremen, die nach dem Auslaufen ihrer Sanierungshilfen im Jahr 2004 bereits neue Klagen eingereicht haben. Wann hierüber entschieden wird, ist aber noch offen. (Az.: 2 BvF 3/03jigh)