: Der Elefant wird zum Tiger
Indiens Wirtschaft boomt. Von dem steigenden Hunger nach Energie profitiert die Windindustrie und wächst überproportional zur übrigen Wirtschaft. Im vergangenen Jahr wurde mit einem Zuwachs von 1.255 Megawatt eine neue Rekordmarke erreicht
VON KLAUS SIEG
Rhahul Saheb ist zufrieden. Sein kleines Schustergeschäft bringt rund drei Euro pro Tag. Nicht viel, aber zusammen mit dem Einkommen seiner Frau reicht es für eine bescheidene Wohnung in der Megacity Bombay (Mumbai) und für Essen. Der kleine Bretterverschlag, in dem er sein Handwerk betreibt, steht in der Veera Desai Road im Stadtteil Andheri. In der betriebsamen Straße haben sich viele Filmproduktionen und TV-Studios angesiedelt.
In einem der restaurierten Fabrikgebäude befindet sich auch das Hauptquartier von Enercon India. Und hier ist man ebenfalls zufrieden mit der wirtschaftlichen Entwicklung. „Wir haben ein sehr erfolgreiches Jahr hinter uns.“ Marketingleiter Gokulnath Damodar Kamath lehnt sich entspannt in seinem Schreibtischstuhl zurück.
Indiens Wirtschaft boomt mit einem Wachstum von jeweils 8 Prozent in den vergangenen drei Jahren. So viel erwartet das Wirtschaftsministerium auch für das laufende Jahr. Doch der wachsende Strombedarf des Landes könnte den Höhenflug bremsen. Er steigt in den letzten Jahren mit zweistelligen Zuwachsraten, die Stromproduktion aber durchschnittlich nur um 5 Prozent. Die Regierung beziffert den volkswirtschaftlichen Schaden durch Stromausfälle auf mehr als 25 Milliarden US-Dollar.
Von dem Hunger nach Energie profitiert die Windindustrie, die überproportional zur übrigen Wirtschaft wächst. Im vergangenen Jahr wurde mit einem Zuwachs von 1.255 Megawatt eine neue Rekordmarke erreicht.
Auch für den unangefochtenen Marktführer Suzlon war 2005 ein Erfolgsjahr. „Wir haben über 840 Megawatt in Indien verkauft“, freut sich Anoop Kayarat in der Firmenzentrale in Pune. Hinzu kommen satte Zuwächse auf dem internationalen Markt. Mit ganzseitigen Anzeigen sucht Suzlon in der Times of India Fachkräfte für Indien. Mit China und Südkorea konnte die indische Windschmiede sich neue Märkte erschließen. Im Reich der Mitte plant der Marktführer den Aufbau einer Fertigung.
Dass der Windenergiemarkt so mit der Wirtschaft wächst, hängt mit dem Fördersystem in Indien zusammen. Investitionen in Windanlagen bieten die Möglichkeit, Steuern zu sparen: Im Jahr der Inbetriebnahme kann eine Windanlage mit 80 Prozent abgeschrieben werden. Das hat sogar Bollywoodstars in Windanlagen investieren lassen. Wie die Schauspielerin Aishwarya Rai, die Suzlon-Maschinen im Bundesstaat Rajasthan besitzt. Hinzu kommen niedrige Importzölle für einzelne Komponenten von Windanlagen und Verbrauchssteuererleichterungen.
Doch viele Firmen investieren in Windkraft, um für den eigenen Bedarf zu produzieren. Denn mit rund 6,3 Eurocent pro Kilowattstunde liegen die Strompreise für Gewerbebetriebe auf einem international sehr hohen Niveau. Und seit Inkrafttreten der Electricity Bill 2003 dürfen Betriebe elektrische Energie für den Eigenverbrauch auch abseits ihres industriellen Standorts produzieren und durch das öffentliche Netz leiten.
„Unserer Kunden kommen häufig aus der Textil- oder Stahlindustrie“, sagt Enercon Mitarbeiter Rajesh Lalitkumar Trivedi. Wie etwa der führende indische Autozulieferer Bharat Forge, der vor kurzem in Deutschland für Aufsehen gesorgt hat, als er drei Zulieferbetriebe aufgekauft hat.
Hinter Trivedi streichen Arbeiter den frischen Beton eines Fundaments für eine der letzten von 245 Anlagen glatt, die Enercon in Satara installiert hat. Fast eintausend Windmühlen verschiedener Hersteller drehen sich auf den 700 Meter hohen Bergplateaus im Wind. Damit ist Satara im Bundesstaat Maharashtra der zweitgrößte Windpark des Subkontinents. Besser gesagt, die größte Konzentration von Windanlagen in einem geschlossenen Areal. Denn die Anlagen und auch die Grundstücke, auf denen sie stehen, gehören unterschiedlichen Besitzern. Für Wartung und Vertrieb sind die Hersteller zuständig.
Über 30 Mitarbeiter beschäftigt Enercon hier. Sie wohnen in einem flachen Steinhaus auf dem Plateau. Einige hagere Kühe grasen davor in der sengenden Sonne. Die rotierenden Windflügel werfen wandernde Schatten auf den ausgetrockneten Boden. Neben den Zimmern der Monteure befindet sich ein Lager, in dem eine lange Reihe Sicherheitsgurte und Helme hängt. „Wir haben hier alles, vom Kabelschuh bis zum Getriebe“, sagt einer der Arbeiter und nippt an seinem süßen Milchtee.
Indien hat mit 45.000 Megawatt ein enormes Windpotenzial. Doch ein großer Teil davon wird kurzfristig nicht nutzbar sein. Der größte Hemmschuh ist das schlecht ausgebaute Stromnetz. An vielen guten Standorten ist eine Einspeisung unmöglich. Angeschlossene Mühlen stehen in guten Windzeiten häufig still, weil das Netz überlastet ist, gewartet oder repariert wird. Hinzu kommt ein miserables Straßennetz, das beispielsweise die Installation von Maschinen mit höherer Leistung verhindert. Sowohl Suzlon als auch Enercon fertigen zum Beispiel in Daman, nördlich von Bombay. Der Transport von dort nach Satara dauert vier bis fünf Tage, obwohl die gerade einmal 500 Kilometer lange Strecke zum Teil über eine der besten Straßen des Landes führt.
Dennoch bleibt ein technisches Windpotenzial von über 14.000 Megawatt, das erschlossen werden könnte. Die Windkraft stellt den Großteil der erneuerbaren Energien, die mittlerweile fast 6 Prozent der gesamten installierten Leistung in Indien ausmachen.
Doch Grundstücke mit gutem Windpotenzial sind in ganz Indien im Preis stark gestiegen. Anlagen im Meer sind dennoch kein Thema. „Wir haben Messungen vor der Südspitze Kanyakumari vorgenommen, das Potenzial ist nicht besonders gut“, sagt ein Sprecher des Ministeriums für nichtkonventionelle Energiequellen (Ministry of Non-Conventional Energy Sources, MNES). An der Decke seines Büros dreht sich träge ein großer Ventilator und sorgt für etwas frische Luft. Drei Glaskugeln auf dem Schreibtisch sollen verhindern, dass der Luftzug die Papiere wegweht. „Auf dem Land ist genug Platz für alle“, sagt Gokulnath Damodar Kamath vom Enercon-Büro in Bombay und lächelt wieder entspannt.
Für das Business von Rhahul Saheb ist das nicht entscheidend. Hauptsache, es kommen jeden Tag genügend Kunden in der Veera Desai Road, um sich en passant bei ihm die Schuhe reparieren zu lassen. Bei einer Stadt wie Bombay, in der täglich fünftausend Menschen zuwandern, dürfte die Wahrscheinlichkeit dafür recht hoch liegen.