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Archiv-Artikel

Mütterchen Frost

KINO „My Winnipeg“ heißt Guy Maddins filmische Hommage an seine Heimatstadt, in der noch seine dominante Mutter lebt

Die kanadische Stadt Winnipeg in der Provinz Manitoba hat den Lauf der Geschichte nicht nachhaltig beeinflusst. Einzig durch den Generalstreik im Jahr 1919 erlangte Winnipeg überregional so etwas wie Berühmtheit. Aus dem Arbeiteraufstand gingen die Partei der kanadischen Sozialdemokraten und eine im Kollektiv verwaltete Tageszeitung hervor. Guy Maddin würde dem eventuell noch hinzufügen, dass Winnipeg auch die Stadt mit den meisten Schlafwandlern sei – aber diese Behauptung ist, wie so vieles in seinem Film „My Winnipeg“, nicht belegt.

Maddin ist gewissermaßen ein Experte: In Interviews und seinen extrem unterhaltsamen DVD-Kommentaren wird er nicht müde zu erklären, welch innige Hassliebe ihn mit seinem Geburtsort verbindet. Mit der Hommage „My Winnipeg“ hat er den Versuch unternommen, den Ursprüngen dieser Ambivalenz auf den Grund zu gehen. Nostalgische Verklärung also geht mit einer pointierten Verstörung einher. Da blickt sein Alter Ego, während es das winterliche Winnipeg und den ganzen Rattenschwanz an Erinnerungen hinter sich zu lassen versucht, somnambul aus dem Zugfenster – und die Mutter starrt, als übergroße Rückprojektion, hinein. Die Eisenbahn gehört neben dem Schnee und dominanten Frost-Müttern zu den Schlüsselmotiven (und -geräuschen) in Maddins Film.

Winnipeg ist einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Kanadas, nicht nur das Schienennetz läuft hier zusammen, auch die beiden großen Flüsse Red und Assiniboine stoßen aufeinander. In „My Winnipeg“ geht es also um Knoten und Verknüpfungen. Maddin liefert eine geheime Parallelgeschichte seiner Stadt, die sich an entscheidenden Punkten mit der offiziellen Geschichtsschreibung schneidet: Der Arbeiteraufstand, der kleinste Park der Welt (bestehend aus einem einzigen Baum), der Niedergang des lokalen Eishockeyteams, der Abriss des Traditionskaufhauses sind die Wegmarken seiner Stadtgeschichte, über die er wiederum das Raster namenloser Seitenstraßen und Hinterhofgassen legt, in denen sich das wahre Winnipeg verbergen soll. Maddin ist Eingeweihter und Fremder zugleich. Mit „My Winnipeg“ trägt er Schicht um Schicht auf: echte Filmgeschichte auf simulierter (die Ästhetik des Stummfilms dient wie immer als Referenzgröße), authentische Archivbilder und nachgestellte erfundene Lebensläufe mit wahrem Kern. Ein Gewirr aus falschen Fährten und verblüffenden Cross-Referenzen schließen die Geschichte Winnipegs mit Maddins Biografie – der erfundenen wie der echten – kurz.

Im Mittelpunkt von Maddins Sinnsuche, die stets vom Ironischen ins Neurotische lappt, steht ein soziales Experiment, mit dem er seine verdrängten Erinnerungen an die Oberfläche zu befördern versucht. In seinem alten Elternhaus rekonstruiert er Schlüsselszenen seiner Kindheit. Die Film-noir-Kultfigur Ann Savage (unerreichbar böse in Edgar G. Ulmers „Detour“) in der Rolle der Mutter ist einer dieser grandiosen Besetzungscoups, mit denen Maddin seine imaginäre Filmgeschichte immer wieder perforiert. Gemeinsam sitzt die Familie vor dem Fernseher und schaut sich Folgen der fiktiven Serie „Ledge Man“ an, in der ein Mann Woche für Woche auf dem Fenstersims mit Selbstmord droht, während ihn seine Mutter (alias Maddins Mutter alias Savage) von seinem Vorhaben abzubringen versucht. Bei ihnen sitzt auch stumm die neue Besitzerin des Elternhauses – weil sie sich weigert, ihr Wohnzimmer für das Experiment zu verlassen.

Wenig überraschend für Maddin-Fans legt der Filmemacher in „My Winnipeg“ seine eigene Sexualtopografie über die Topografie seines Geburtsorts. Der Schoß, die Stadt. Die frohlockenden Klosterschülerinnen, die aufständischen Arbeiter. Er hat einen ganz speziellen Blick kultiviert, der, man ist schließlich nur Mensch, immer auch triebgesteuert funktioniert. Und wie bei jeder Obsession bringt die Beschäftigung mit dem Objekt des Begehrens nicht die ersehnte Befreiung. Maddins Zugfahrt hat einen Anfang, nimmt jedoch kein Ende. ANDREAS BUSCHE

■  „My Winnipeg“. Regie: Guy Maddin. Mit Ann Savage, Louis Negin u. a., Kanada 2007, 79 Min.