: Stillleben mit Hausboot und Deich
Wenn aller Anfang schön ist, ist dann aller Rückfall schlecht? Im aktuellen asiatischen Kino sind die Menschen stets hoffnungsvoll zwischen Stadt und Land unterwegs, doch zuletzt stehen sie vor einem Leben in Scherben. Eindrücke vom 11. Internationalen Filmfestival im koreanischen Busan
von HELMUT MERKER
Das Motiv der Reise im Film ist so alt wie die Filmgeschichte selbst – die fängt schließlich mit der Ankunft eines Zuges im Bahnhof an. Auch die Filme beim 11. Internationalen Filmfestival in Busan beginnen oft mit einem Besucher, der vom Lande in die Stadt kommt (oder umgekehrt); und am Ende wird er wieder zurückgehen. Dazwischen werden Alltagsprobleme thematisiert, die die Distanz zwischen den hektischen städtischen und den zurückgebliebenen dörflichen Regionen spiegeln.
Ein Fluss, ein Boot, ein Mann, die Silhouette der Stadt. Abschreckend und verlockend zugleich – so fängt „Distance“ von Wie Tie an. Und am Ende wird der Film sich mit diesem Bild auch verabschieden. In der Zeit dazwischen hat der Mann Arbeit gesucht und ist dabei von gerissenen Vermittlern mit ihren Formularen und Gebühren um seine letzten Ersparnisse gebracht worden. Wenn sich doch mal eine Chance bietet: ein Blick auf Wohn- und Arbeitsbedingungen, und das Grauen bricht aus. Ein ungeschminkter, nahezu dokumentarischer Streifzug durch die Wirklichkeit einer anonymen Großstadt in China.
Das genaue Gegenteil bei Dai Sijie: ein stiller See mit prächtigem Garten. Das ist die Idylle aus Dschungel und Paradies, mit der „The Chinese Botanist’s Daughters“ beginnt und endet. Nur dass anfangs die schöne Studentin voller Erwartung über den See rudert und zuletzt ihre Asche dort ausgestreut wird. Sie hat sich nämlich der Todsünde der lesbischen Liebe schuldig gemacht – mit der Tochter eines renommierten Botanikprofessors. Der Regisseur, der hierzulande mit „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“ bekannt wurde, ging für diese provozierende Konstellation straflos aus, obwohl er das alles in Hochglanzbilder mit schluchzenden Geigen werbeästhetisch bunt verpackt hat.
Eines langen Tages Reise durch die Nacht braucht es auch, um an den Festivalort zu kommen: 10 Flugstunden nach Seoul, eine weitere bis Busan und dann noch eine im Taxi mit vielen Schwenks durch atemberaubende Wolkenkratzer-Skylines, Meeresbuchten, Landzungen, Tunnels und Berge bis zum Stadtteil Haeundae. Damit ist man dann ungefähr am südöstlichsten Punkt der Stadt, des Landes, sogar des Kontinents angelangt.
Die überraschende Entdeckung des Festivals kommt aus Korea. Wieder geht es um das Unterwegssein. In „Ad Lib Night“ von Lee Yoonki wird ein Mädchen aus Seoul zu einer Fahrt aufs Land überredet, um einem Sterbenden den letzten Wunsch zu erfüllen, indem sie als seine wiedergefundene Tochter auftritt, die sich vor Jahren aus dem Staub gemacht hat. Die moralische Dimension dieses Rollenspiels, die zögernd wachsende Bereitschaft, die Feindseligkeit der übrigen Trauergäste, die Mimik und Gestik im Angesicht des Todes: aus all dem setzt der Film ein faszinierendes Bild der koreanischen Gesellschaft zusammen, in der die familiären Bindungen immer zerbrechlicher werden; nicht nur die junge Generation hat sich von der älteren abgewendet, sondern auch die Eltern lassen ihre Kinder im Stich. Einzig das Mädchen Bo-kyung hat mit ihrer „Improvisation“, so die Bedeutung des Titel, mit der sie am Todeslager des alten Mannes auftritt, ein Zeichen der Menschlichkeit gesetzt.
Alle Sektionen in Busan – außer der kleinen „World Cinema“ – sind asiatischen Filmen vorbehalten. Die Wettbewerbspreise der Internationalen und der Fipresci-Jury für asiatische Debütfilme teilten sich zu Recht zwei Werke, „Love Conquers All“ von dem malaysischen Regisseur Tan Chui Mui und „Betelnut“ von Yang Heng aus China. Damit wurde nicht der perfekte, aber der innovative Einsatz von Bild und Ton belohnt.
Wieder kommt bei Yang Heng ein Mädchen in die Stadt, trifft einen zwielichtigen Jungen, der unverblümt die Taktik des Zuhälters offenbart: sich verlieben, finanzielle Probleme vortäuschen, Geld erpressen, das Mädchen auf den Strich schicken. Je hübscher sie sind, desto vertrauensseliger. Ong Li Whei ist sehr hübsch und vertraut nach allen Schrecken doch dem Motto „Liebe besiegt alles“. Die Geschichte erinnert an Kim Ki-duk, gleichwohl verzichtet „Betelnut“ völlig auf dramatische Akzente zugunsten einer Ästhetik des Stillstands. In zwei Stunden gibt es 50 Einstellungen, kaum Kamerabewegungen, keine Großaufnahmen. Die Stillleben mit Fluss, Hausboot, Deich, zwei Straßen und wenigen Jugendlichen erinnern an die Großmeister der langen Einstellungen: an Tsai Ming-liang oder Apichatpong Weerasethakul.