DAS GEDENKEN AN DEN AUFSTAND VON 1956 ENTZWEIT HEUTE DIE UNGARN : Zerrbilder der Vergangenheit
Wem gehört der Ungarn-Aufstand von 1956? Zu den gestrigen Jubiläumsfeierlichkeiten entzweite diese Frage einmal mehr die ungarische Gesellschaft. Während Staatspräsident László Sólyom und Premier Ferenc Gyurcsány mit Staatsgästen in der Oper und am Heldenplatz der Ereignisse vor 50 Jahren und der 2.600 Opfer der Revolte gedachten, versuchte Oppositionsführer Viktor Orbán, seine Protestbewegung gegen die Regierung zur Neuauflage der 56er Revolution erklären.
Schon der Sturm rechtsradikaler Hooligans auf das Rundfunkgebäude vor fünf Wochen knüpfte an ähnliche Szenen vor einem halben Jahrhundert an. Die versuchte Demontage eines Denkmals für „Gefallene der Roten Armee“ geriet zur pathetischen Parodie der Demontage des Stalin-Denkmals im Jahre 1956. Doch die Menschen – mehrheitlich Anhänger der rechten Parteien –, die Nacht für Nacht auf dem Kossuth-Platz vor dem Parlament demonstrieren, betrachten sich als legitime Nachfolger der Aufständischen gegen den Kommunismus. Und für Orbán, der sich inzwischen an die Spitze der Protestbewegung gestellt hat, geht es nicht mehr allein um den Rücktritt von Premier Gyurcsány, sondern um die Auflösung der sozialdemokratischen MSZP als Nachfolgepartei der alten KP. Veteranen von 1956 ließen sich in diese Inszenierung einspannen: Hie die Erben der tapferen Revolutionäre – dort mit Regierung und MSZP die Nachfolger der Schergen, die die Aufständischen an den Galgen brachten.
Leute wie Paul Lendvai dagegen, der damals als junger Journalist in den Westen flüchtete und heute in Wien lebt, betrachten jeden Vergleich der heutigen Situation mit damals als geradezu blasphemisch. Denn ohne die kommunistischen Reformer und Intellektuellen, die 1956 den Zusammenbruch der Staatspartei beschleunigt hatten, wäre der Aufstand viel schneller gescheitert. Arbeiter, Lehrlinge Studenten, Angehörige aller Gesellschaftsschichten machten mit und leisteten zum Teil noch nach der Invasion heroischen Widerstand. Diese Erinnerung sollte vereinen, statt zu trennen.
Dass dem nicht so ist, zeigt nur, wie wenig die Vergangenheit in Ungarn aufgearbeitet wurde und wie weit der Weg dazu noch ist. RALF LEONHARD