: „Der Zuschauer wird zum Voyeur“
Einen Roman über Kindesvernachlässigung hat die Regisseurin Judith Wilske zur Grundlage ihres Stücks „Ermittlungen im Fall Lotta Jessen“ gemacht. Heute ist Uraufführung – im Hamburger Polizeipräsidium
taz: Frau Wilske, welche Rolle spielen in Ihrer Inszenierung die Zuschauer?
Judith Wilske: Sie sind eingeladen, an einer Befragung teilzunehmen. Das Stück spielt in einem Verhörraum, der durch einen Spion-Spiegel geteilt ist. Das Publikum kann dabei in die andere Seite des Raums blicken, wo eine Polizistin die zwölfjährige Lilly Jessen zu den Vorkommnissen in ihrer Familie befragt. Lilly kann nicht in den Zuschauerraum schauen. Für sie ist diese Scheibe ein Spiegel.
Warum dieser Spiegel?
Damit der Zuschauer in eine Voyeursposition hineinkommt. Eine Situation, die er wiedererkennt – aus dem Fernsehen zum Beispiel. Damit ist auch seine Rolle definiert.
Was erwarten Sie vom Zuschauer: Soll er urteilen? Sich identifizieren?
Das Besondere an dieser Geschichte ist, dass das Thema Kindesvernachlässigung aus der Sicht eines Kindes erzählt wird. Lilly ist zwar nicht das vernachlässigte Kind, aber es sind ihre Eltern, die ihre Schwester Lotta misshandelt haben. Die Tatsache, dass das Mädchen erzählt, bringt eine andere Tonlage in das Spiel, als wenn das ein Erwachsener täte. Man bekommt Einblick in den Alltag einer ganz normalen Familie. Und da ist so etwas passiert. Um die Ecke, Wand an Wand. Und in diese Situation bringe ich den Zuschauer: Er sitzt Wand an Wand mit denjenigen, bei denen sich das ereignet hat.
Wer wird in Ihrem Stück zum Schuldigen?
Es geht um das ganze Umfeld. Das Interessante an diesem Stoff ist allerdings, dass sich Lilly – die völlig unschuldig ist – immer wieder fragt, was sie hätte anders machen können. Sie steckt in einem Dilemma, weil sie doch ihre Eltern nicht verraten will. Und genau das fragt man sich doch in solchen Fällen auch: Was würde ich tun? Würde ich beim Jugendamt anrufen und sagen, ich glaube, da ist ein Kind im Keller?
Sie glauben also, die Leute merken durchaus, wenn in ihrem Umfeld Kinder misshandelt werden – aber sie sagen nichts?
Es gibt beide Komponenten. Die Frage ist: Ist man wirklich so sensibilisiert, dass man die Warnsignale bemerkt? Die zweite Frage: Wie reagiere ich darauf? Lilly Jessen schreibt zum Beispiel einen Aufsatz an ihre Lehrerin, der – aus der Distanz – ein klares Zeichen ist: Eine 13-Jährige denkt sich doch keine Geschichte aus, in der ein Kind im Keller versteckt wird! Warum merkt die Lehrerin das nicht und schreibt nur lapidar darunter: „Das hast du schön erzählt.“? Da fragt man sich: Hätte ich als Lehrerin das bemerkt?
Finden Sie es nicht grundsätzlich problematisch, aus einem solchen Stoff ein Theaterstück zu machen? Verniedlichen Sie nicht das Thema?
Nein. Was ich mache, ist und bleibt Kunst. Ich habe ja nicht aus dem konkreten Fall Jessica ein Stück gemacht. Unsere Inszenierung beruht auf Martina Borgers und Maria Elisabeth Straubs Roman „Kleine Schwester“ aus dem Jahr 2002. Auch der Raum, in dem wir spielen, existiert in der Realität nicht. Wir verändern den Raum im Polizeipräsidium. Mit Hilfe dieser theatralen Mittel bearbeite ich die Realität, und das schafft eine andere Perspektive. Ein solches Stück lässt den Stoff dichter an die Menschen herankommen, als wenn sie die Zeitung aufschlagen und denken, was haben die da in Bremen schon wieder gemacht? INTERVIEW: PETRA SCHELLEN
Uraufführung: heute, 20 Uhr, Polizeipräsidium Alsterdorf, Hamburg