: „Regierung vernebelt, statt aufzuklären“
ALTERSSICHERUNG Um die Rente mit 67 pünktlich einzuführen, interpretiert Schwarz-Gelb die Statistik falsch, sagt IG-Metall-Vorstand Urban. So hätten zwar mehr ältere Menschen Arbeit – aber leider oft prekäre Jobs
■ Der 49-Jährige ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. Urban ist für Gesellschaftspolitik, für Grundsatzfragen und die strategische Planung zuständig.
taz: Herr Urban, die Arbeitsministerin legt nächste Woche ihren Bericht zur Rente mit 67 vor. Sie fordern jetzt, eine unabhängige Expertenkommission dazu einzusetzen. Trauen Sie Ursula von der Leyen nicht über den Weg?
Hans-Jürgen Urban: Wir befürchten einen Wirrwarr um Statistiken und Zahlen. Uns werden Zahlen zur Rente mit 67 präsentiert, die mehr vernebeln als zur Aufklärung beitragen.
Geben Sie mal ein Beispiel.
Es gibt ja schon erste Hinweise, was im Bericht zur Rente mit 67 stehen wird. Da wird auf die steigende Erwerbsquote der 64-Jährigen verwiesen. Die liegt in der Tat jetzt bei knapp 20 Prozent. Aber sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren trotzdem gerade einmal 9,9 Prozent der 64-Jährigen. Davon befindet sich noch einmal die Hälfte in Teilzeitarbeit, Leiharbeit oder befristeter Beschäftigung.
Die Zahlen, auf die sich die Bundesregierung beruft, sind also reine Augenwischerei?
Die Zahlen, die präsentiert werden, sollen eine Verbesserung der Arbeitsmarktlage und der Situation in den Betrieben für Ältere zeigen. Sie zeigen aber genau das Gegenteil, nämlich einen sozialpolitischen Skandal, der darin liegt, dass sich immer mehr ältere Arbeitnehmer über prekäre Beschäftigung, unter anderem Minijobs, etwas dazuverdienen müssen.
Aber was ist Ihr Alternativkonzept? Schließlich gibt es mehr Rentner, die immer länger Rente beziehen.
Der Schlüssel zu einer solidarischen und sozialstaatlich angemessenen Lösung liegt in den Betrieben und auf dem Arbeitsmarkt.
Nur ein Beispiel: Würde die Politik wirklich Ernst machen damit, die soziale Infrastruktur für ein partnerschaftliches Miteinander bei der Erziehung von Kindern zu fördern, dann hätten Frauen eine deutlich bessere Erwerbschance. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen würde steigen. Dann würde sich die Relation von den tatsächlich Erwerbstätigen zu denjenigen, die im Alter zu versorgen sind, deutlich verbessern.
Noch einmal zur unabhängigen Expertenkommission. Was versprechen Sie sich davon?
Wir befürchten, dass die Bundesregierung eine Strategie des „Durchwurschtelns“ versucht. Sie legt den Bericht vor und wird sagen, die Bedingungen für die Rente mit 67 sind gegeben, wir können 2012 anfangen. Das entspricht nicht der Wirklichkeit. Deswegen wollen wir eine öffentliche Diskussion, die auf objektiv prüfbarer Zahlenbasis geführt wird. Wir bringen unsere Interpretation der Zahlen ein, die Bundesregierung die ihre. Dann müssen Öffentlichkeit und Transparenz geschafft werden, und die Öffentlichkeit kann debattieren.
■ Der Plan: Die Altersgrenze, ab der man ohne Abschläge in Rente gehen kann, soll von 2012 an schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben werden. Die Übergangsphase wird bis 2029 dauern. Die Rente mit 67 hatten Union und SPD 2007 beschlossen, um den demografischen Wandel in der Altersversorgung aufzufangen.
■ Die Evaluation: Alle vier Jahre muss die Bundesregierung überprüfen, ob die Anhebung der Rentenaltersgrenze mit Blick auf die Arbeitsmarktlage und die wirtschaftliche und soziale Situation älterer Arbeitnehmer vertretbar ist. Obwohl die Bundesregierung erst kommenden Mittwoch ihren ersten Prüfbericht vorlegt, betont sie bereits jetzt, dass die Rente mit 67 kommen kann. (voe)
Sind Sie angesteckt von der Schlichtung bei Stuttgart 21?
Auch auf dem Feld der Alterssicherung sind wir mit einem Problem konfrontiert, das wir auf anderen Politikfeldern sehen. Das Problem besteht in einer vehementen Kollision zwischen dem Regierungshandeln und der Politik einer politischen Elite auf der einen und der Meinung der Bevölkerung andererseits. Es gibt eine übergroße Mehrheit, die vor dem Hintergrund der eigenen sozialen Wirklichkeit die Rente mit 67 ablehnt. Die Politik ignoriert diese Mehrheit.
Eine übergroße Mehrheit? Davon sieht man aber nicht viel. In Frankreich sind Hunderttausende auf die Straße gegangen und haben gegen eine Anhebung der Altersgrenze demonstriert. Hier nicht.
Das sehe ich nicht so. Seit einigen Wochen laufen die Herbstaktivitäten der Gewerkschaften. Wir wollten keine 1-Punkt-Demonstration an einem Samstagnachmittag in Berlin. Wir wollten dezentrale, regionale Aktivitäten und die nachhaltige Kommunikation mit der Bevölkerung. Demonstrationen gibt es trotzdem. In Hannover waren vergangene Woche 15.000 und in dieser Woche in Frankfurt 6.000 Beschäftigte auf der Straße. Am Samstag gibt es Demonstrationen in Stuttgart, Nürnberg, Dortmund und Erfurt. INTERVIEW: EVA VÖLPEL