Das Spiel von Liebe und Banlieu

„L’Esquive“ von Abdellatif Kechiche stahl dem französischen Starkino die Show

Ein kleiner, unpolierter Film aus den Pariser Vorstädten stahl im letzten Jahr dem französischen Starkino die Show. Für die Césars, also die gallischen Oscars, waren solche cineastischen Prunkbauten wie „Mathilde – Eine große Liebe“ von Jean-Pierre Jeunet oder „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ die Favoriten. Doch dann gewann völlig überraschend „L’Esquive“ von Abdellatif Kechiche die Hauptpreise für den besten Film, die beste Regie und das beste Drehbuch.

Der Film wurde auf Video in einer Sozialsiedlung mit Laiendarstellern gedreht – ist also ein extremer Gegenentwurf zum „Grand Cinéma“ der „Grande Nation“. Aus dieser kommt er zudem nur bedingt, denn er steht in der Tradition des Cinéma Beur – des Kinos der Einwanderer, die seit den neunziger Jahren die französische Leitkultur, von der anders als in Deutschland das Kino ein entscheidender Bestandteil ist, mit deren eigenen Mitteln unterwandern.

Und dieser Widerspruch zwischen französischer Hochkultur und den kreativen Energien der „Unterschicht“ bildet auch das Grundthema von „L’Esquive“. So hat auch der Titel eine doppelte Bedeutung. Zum einen bezeichnet er einen Ausweichschritt beim Boxen oder Fechten, umgangssprachlich steht er aber auch für „die Zeche prellen“ oder „sich vor etwas drücken“. Und darin ist der junge Antiheld des Films, Krimo, ein wahrer Meister. Im Pariser Vorortviertel Franc Moisin schummelt der Faulpelz sich überall durch, bis er von der schönen Lydia aus seinem Phlegma geweckt wird. Diese läuft in einem Rüschenkleid, das sie sich von ihrem letzten Geld hat schneidern lassen, durch die Wohnblocks, denn sie hat sich zusammen mit ihren Freundinnen in der Theatergruppe ihrer Schulklasse für das Schauspielen begeistert. Zusammen proben sie mit „Das Spiel von Liebe und Zufall“ von Marivaux eines jener typisch französischen Gesellschaftsdramen des 18. Jahrhunderts, in dem ständig in schönstem Hochfranzösisch über die Liebe palavert wird. Lydia wedelt dabei ständig mit dem Fächer herum und genießt offensichtlich die Aufmerksamkeit, die sie durch die Hauptrolle erhält. Krimo, der in seinem Leben noch kein Buch gelesen hat, ist von ihr hingerissen, und um an sie heranzukommen, will er unbedingt mitspielen. Den Hauptdarsteller kann er noch mit Turnschuhen und Computerspielen aus seiner Rolle herauskaufen, sodass er selber den romantischen Helden neben seiner Angebeteten spielt. Doch leider ist er völlig unbegabt und vernuschelt die lyrischen Sätze gnadenlos. Bald hat Krimo in seiner Clique ein ähnlich kompliziertes Verwirrspiel der Gefühle in Gang gesetzt, wie es in dem Schauspiel herrscht. Und dabei zeigt sich, dass sich die Jugendlichen in ähnlich ritualisierte und leidenschaftliche Wortgefechte stürzen wie die Adeligen im Barock. Diese Spiegelung wird immer dann besonders augenfällig, wenn Lydia im Rüschenkleid bei den Proben aus der Rolle fällt und sich im saftigsten Slang mit ihren Freundinnen streitet. Mit der Handkamera gedreht, wirkt der Film so authentisch wie eine Sozialdokumentation. Kechiche zeigt die Trostlosigkeit der französischen Vorstädte, und man kann zum Teil die Wut nachvollziehen, die zu den Straßenunruhen vor einigen Monaten führte.

Die Jugendlichen sind bei ihren Beschimpfungen zu ähnlich poetischen Höhenflügen fähig wie die Figuren des klassischen Dramas. Doch anscheinend ist das Französische dafür besser geeignet als das Deutsche. Denn die Übersetzer mussten auf amerikanische Slangwörter ausweichen, und so entbehrt es nicht einer gewissen Komik, wenn in den deutschen Untertiteln eines französischen Films ständig Ausdrücke wie „bro“, „hood“ oder „Motherfucker“ zu lesen sind.

Wilfried Hippen