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Archiv-Artikel

Ein Gesicht wie jedes andere

Prosopagnostiker haben Mühe, Gesichter zu erkennen, selbst diejenigen von Verwandten und Bekannten. Die vererbbare Störung ist weitaus verbreiteter, als allgemein vermutet wird. Die Diagnose ist schwierig und eine Therapie gibt es nicht

„Ein Prosopagnostiker kann sich lediglich nicht an Gesichter erinnern, sonst hat er ein hervorragendes Gedächtnis“

VON KATHARINA SCHÖBI

„Eines Tages um die Mittagszeit traf ich meine Mutter auf dem Gehsteig und erkannte sie nicht. Die war davon ganz und gar nicht begeistert und hat es mir bis heute nicht verziehen.“ Was Bill Choisser aus San Francisco auf seiner Homepage (www.choisser.com/faceblind) erzählt, ist für die meisten Menschen unvorstellbar. Zwar hat jeder manchmal Probleme, den neuen Nachbarn oder die Verkäuferin im Blumenladen wiederzuerkennen; engste Bekannte und Verwandte zu verwechseln scheint hingegen unmöglich. Für Choisser aber ist es Alltag. Er leidet an Gesichtsblindheit.

Als Wegbereiter für die Erforschung der Gesichtsblindheit gilt der deutsche Neurologe Joachim Bodamer. Er beschrieb 1947 die Symptome von drei Patienten, die nach einer Hirnverletzung medizinisches Personal und zum Teil sogar ihre Verwandten nicht mehr am Gesicht erkennen konnten. Bodamer nannte dieses Phänomen Prosopagnosie, nach den griechischen Wörtern Prosopon, das Gesicht, und Agnosia, das Nichterkennen. Der deutsche Begriff Gesichtsblindheit ist irreführend und trifft eigentlich nur für Personen zu, die ein Gesicht nicht als solches identifizieren können.

„Solche Fälle gibt es tatsächlich, aber äußerst selten“, meint Ingo Kennerknecht, der an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster das Phänomen Prosopagnosie erforscht. Prosopagnostiker könnten ein Gesicht detailliert sehen und von diesem auch ohne Schwierigkeiten das Geschlecht sowie den Emotionsgehalt ablesen. Sie hätten aber Mühe, sich an Gesichter zu erinnern, und brauchten länger, um sich ein Gesicht zu merken.

Doch wo liegt der Unterschied zwischen Prosopagnosie und reiner Vergesslichkeit? „Ein Prosopagnostiker kann sich lediglich nicht an Gesichter erinnern, sonst hat er ein hervorragendes Gedächtnis“, erklärt Kennerknecht. Von Vergesslichkeit spreche man, wenn eine Person auch Mühe habe, sich an Termine zu erinnern oder Gegenstände zu finden, die nicht am üblichen Platz liegen.

Es gibt zwei Formen der Prosopagnosie. Die erworbene Prosopagnosie tritt nach einem Gehirnschaden auf, etwa nach einer schweren Schädelverletzung oder einem Schlaganfall. Die angeborene Prosopagnosie ist genetisch bedingt und vererbbar. Offensichtlich genügt ein einziger Gendefekt für die Störung. „Bisher konnten wir dieses Gen allerdings noch nicht identifizieren, und es wird vermutlich noch etwas dauern, bis wir es gefunden haben“, meint Kennerknecht.

Die angeborene Prosopagnosie galt bis vor wenigen Jahren als äußerst selten, denn die Betroffenen wissen oft selbst nicht, dass sie an dieser Störung leiden. Sie haben von klein auf gelernt, ihre Mitmenschen an anderen Merkmalen als am Gesicht zu identifizieren. „Eine Lehrerin dachte, alle Menschen müssten Gesichter auswendig lernen, um sie wiederzuerkennen“, erzählt Kennerknecht. Erst als bei ihr Prosopagnosie diagnostiziert worden sei, habe sie gemerkt, dass die Mehrheit der Menschen Personen ohne Schwierigkeiten erkenne. Die Forscher konnten mittlerweile zeigen, dass rund 2,5 Prozent der Bevölkerung prosopagnostisch sind. Demnach gäbe es in Deutschland mehr als 2 Millionen Prosopagnostiker – viele davon in derselben Familie, denn die Hälfte der Nachkommen von Gesichtsblinden ist ebenfalls von der Störung betroffen.

Insbesondere Kinder profitieren von einer frühen Diagnose. Nur so kann ihnen geholfen werden, Strategien zur Erkennung ihrer Mitmenschen zu entwickeln. Die Diagnose der angeborenen Prosopagnosie ist allerdings sehr schwierig: Es gibt keine sichtbaren Veränderungen im Gehirn und die bekannten Gesichtserkennungstests erlauben keine eindeutige Diagnose. Mit Hilfe eines einseitigen Fragebogens suchen Kennerknecht und seine Mitarbeiter nach Personen, die prosopagnostisch sein könnten. Die endgültige Diagnose kann jedoch erst nach einer ausführlichen Befragung gestellt werden.

Erwachsene Prosopagnostiker haben zwar oft Mühe, etwa der Handlung in einem Film zu folgen, weil sie die Schauspieler verwechseln. Im Alltag scheinen sie laut Kennerknecht aber gut in die Gesellschaft integriert zu sein. Bei Kindern allerdings kann die Prosopagnosie zu sozialer Ausgrenzung führen, dauert doch etwa ihre Integration in den Klassenverband erheblich länger. Sie lernen jedoch, mit ihrer Schwäche zurechtzukommen.

„Ich konnte meine Kameraden zuerst nicht auseinanderhalten, aber ich merkte mir allmählich, wer wo im Klassenzimmer saß“, erzählt Choisser. Auf dem Schulhof allerdings habe er fast niemanden erkannt und daher allein gespielt. „In der dritten Klasse fand ich heraus, dass die meisten Kinder immer dieselbe Jeansmarke trugen“, fährt der Amerikaner fort. So habe er gelernt, seine Mitmenschen an den Hosen zu erkennen.

Solche Merkmale wie auch die Form des Haaransatzes, der Wimpern und Ohren, die Zahnstellung, die Hände, die Stimme oder auch die Gangart sind für Gesichtsblinde wichtige Hilfsmittel, denn eine Therapie gibt es nicht. Prosopagnostiker müssen lernen, mit ihrer Störung zu leben.