piwik no script img

Archiv-Artikel

Fernsehen statt Goethe

VERFÜHRUNG Maden fressen. Volksmusik. Krimis nach Schema F. Wer mag das noch sehen? Zwei TV-Macher aus unterschiedlichen Welten wollen die Menschen wieder begeistern. Sie süchtig machen. Mit einer neuen Hochkultur des Fernsehens

Zwei Player

■ Klassik: Florian Hager, 38, leitet beim deutsch-französischen Kultursender Arte die Abteilung, die das Programm für TV und Netz plant. Er will eine neue Idee von Fernsehen im System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks etablieren. Sendezeiten spielen dabei eine immer geringere Rolle.

■ Moderne: Stefan Schulz, 46, ist der Chef des Videoportals Watchever, das zum französischen Medienkonzern Vivendi gehört. Er greift das System Fernsehen von außen an. Vivendi produziert eigene Serien, um Zuschauer zu binden. Etwa die Fantasy-Reihe „The Returned“. Auch Watchever plant eine eigene Serie.

VON JOHANNES GERNERT UND JÜRN KRUSE

Jessica Falzoi ist 44 Jahre alt, unterrichtet an einer evangelischen Schule in Berlin-Mitte und sagt, dass sie eigentlich kein Fernsehen schaut. Wobei da schon die Frage wäre, was „eigentlich“ heißt. Und was: Fernsehen.

Ob Fernsehen immer nur etwas sein kann, was mit RTL, ARD und 20.15 Uhr zu tun hat. Mit einem Sender und einer festen Zeit. Für Jessica Falzoi also vielleicht noch mit dem Kultursender Arte und 22.20 Uhr. Oder ob Fernsehen einfach das ist, was man vor einem Fernseher tut, möglicherweise auch noch in einem Wohnzimmer.

Falzoi, deren beide Töchter mit fünf Jahren neben Deutsch auch schon Portugiesisch gelernt haben, liest statt fernzusehen lieber ein gutes Buch. Was aber, wenn auch Fernsehen ein Buch sein könnte und dazu noch ein gutes?

Zur Wahrheit über die Englischlehrerin Jessica Falzoi gehört schließlich auch, dass sie gar nicht selten zu Hause vor dem Fernseher sitzt.

Zurzeit schaut sie der CIA-Agentin Carrie Mathison dabei zu, wie sie einen Terroristen jagt. Davor hat sie das Leben der alleinerziehenden kalifornischen Mutter Nancy Botwin verfolgt, die ihre Familie als Grasdealerin durchbringt. „Homeland“, „Weeds“. Jessica Falzoi sieht mit ihrem DVD-Player Serien. Fernsehserien.

In einem keilförmigen grauen Bürogebäude, nicht weit vom Berliner Kanzleramt, und in einem gläsernen, langen Riegel in Straßburg arbeiten zwei Männer an einer neuen Art von Fernsehen – für Menschen, die eigentlich nicht fernsehen. Menschen wie Jessica Falzoi. Oder ihre Schüler, von denen viele wohl nur noch in historischen Dokumentationen auf YouTube sehen, wie das früher war, als am Samstagabend Millionen Familien vor dem Fernseher saßen, weil es Shows oder Filme nur dann gab. Sie schauen Videos lieber online, auf dem Smartphone, dem Computer, dem Tablet.

Die beiden Männer, die nicht nur die Bildungsbürgerin Jessica Falzoi, sondern auch die Generation der Sendezeitlosen für ihr neues Fernsehen gewinnen möchten, haben völlig unterschiedliche Geschichten. Sie sitzen in sehr verschiedenen Unternehmen.

Der eine ist Stefan Schulz. Er hing früher in der Punk-Szene rum. Ein Mann der Unterhaltung, der den alten Fernsehsendern mit der Video-Plattform Watchever in Berlin zeigen will, wie gut Fernsehen und Internet zusammenpassen könnten.

Der andere ist Florian Hager. Er spielte schon als Kind Geige. Ein Mann der Kultur, der seinem Sender in Straßburg zeigen will, dass auch Arte in einer digitalisierten Welt bestehen kann.

Sie beide wissen, dass das Fernsehen nur eine Zukunft hat, wenn sich zwei Dinge ändern: Die Stoffe müssen besser werden. Und jeder muss sie dann sehen können, wenn es ihm oder ihr gerade passt. Für Schulz und Hager ist jedes Smartphone, jedes Tablet und jeder Computer ein potenzieller Fernsehbildschirm. Und ihnen ist klar, von welchen Stoffen seit einigen Jahren schon der größte Sog ausgeht: von Serien. Was sie zu einem besonders guten Werbemittel für das neue Fernsehen macht, ist die Aura intelligenter Unterhaltung, die sie umgibt.

Eine Lehrerin schwärmt für Verbrecher

Kaum eine Fernseherzählung zeigt das besser als „The Wire“. Polizisten versuchen es darin mit den Kleinen und Großen des organisierten Drogenhandels in der US-amerikanischen Großstadt Baltimore aufzunehmen. Karrieregeile Politiker, prügelnde Cops, Gangsterbosse mit Familiensinn, menschliche Tragödien, Verrat, Intrigen.

Ihr Autor David Simon hat „The Wire“ als „televisuellen Roman“ bezeichnet, langsam entwickelt über fünf Staffeln, detailliert beobachtet wie ein Gesellschaftspanorama des britischen Schriftstellers Charles Dickens. „The Wire“ ist ein wichtiger Teil dessen, was viele Kritiker in den USA als das neue „Goldene Fernsehzeitalter“ bezeichnen. „Absolut ungeschlagen“, sagt die Lehrerin Jessica Falzoi.

Der Gründer der Unterhaltungsplattform Netflix, die einige der Serien zeigt, von denen Falzoi so schwärmt, hat kürzlich gesagt, man solle sich ihre Videos mehr wie ein Buch vorstellen, das man jederzeit aus dem Regal holen kann. Ein Buch hat in bildungsnahen Kreisen immer noch einen wesentlich besseren Ruf als die Kreuzung aus Volksmusikfesten, Madenfresswettbewerben und Schema-F-Krimis, die man dort mit dem Schimpfwort Fernsehen meint.

Stefan Schulz kommt in den Konferenzraum des Berliner Büros von Watchever, die Jeans locker in die Stiefel gesteckt. Schulz vertrieb während seines BWL-Studiums T-Shirts und Pullover, auf denen „Terror Worldwide“ stand. Viele seiner Freunde waren Punks. Er hat um die Jahrtausendwende beim weltweit größten Musiklabel Universal Music daran gearbeitet, Songs von Helene Fischer bis Rammstein übers Internet zu verkaufen. Jetzt arbeitet er daran, Filme und Serien übers Internet anzubieten. Er ist der deutsche Chef der Entertainment-Plattform Watchever, die dem französischen Konzernriesen Vivendi gehört.

Watchever verlangt für sein Programm 8,99 Euro im Monat, „The Wire“ ist dabei, „Weeds“ ebenso. Til Schweiger und seine Tochter haben für Watchever geworben – im Fernsehen.

Schulz, 46 Jahre alt, hat eine helle und freundliche Stimme, die noch heller und höher wird, wenn er etwas erzählt, was ihm wie eine wirklich gute Story vorkommt. Er spricht gut Business-Deutsch und Entertainment-Denglisch. Wenn er über etwas noch nicht nachgedacht hat, sagt Stefan Schulz, er habe das noch nicht reflected.

Er nennt das, was sie bei Watchever anbieten, nicht Fernsehen, sondern SVoD. Subscription Video on Demand. Jeder kann für die monatliche Pauschale Videos anschauen, wie er möchte.

Im Büro von Watchever hängen die eigenen Werbeplakate an den weißen Wänden. Die 40 Leute hier arbeiten eng zusammen wie in einem Start-up. Sitzungen nur, wenn es sein muss. Manche laufen mit Macbooks unterm Arm über die graue Auslegware. Sie bereiten sich darauf vor, dass Ende 2014 wahrscheinlich Netflix nach Deutschland kommen wird: die größte Onlinevideothek der Welt. Der Wettbewerb wird dann noch härter.

Schon jetzt ringen der Fernsehkonzern ProSiebenSat1, die Telekom und das Versandunternehmen Amazon mit eigenen Diensten um Zuschauerinnen. Den iTunes-Shop von Apple gibt es auch noch. Und all die Gratis-Seiten. Die klassischen Sender. Und Googles YouTube, die drittgrößte Webseite der Welt.

In den nächsten fünf Jahren wird sich eine Bezahl-Videoplattform durchsetzen und den Markt dominieren, vermuten Analysten der Firma Goldmedia. Wie iTunes die CD abgelöst hat, weil viele Menschen ihre Musik dort kaufen, so könnte diese marktbeherrschende Plattform die DVDs ersetzen. Und außerdem so manchen Fernsehabend.

„Die Menschen wollen sich nicht mehr jeden Freitag um 20.15 Uhr verabreden lassen“, sagt Stefan Schulz.

Was Dieter Bohlen übrig lässt

Er beobachtet, wie die Zahl derjenigen wächst, die unter Fernsehen das verstehen, was sie übers Internet auf dem Computer oder dem Smartphone empfangen. Zwischen 2012 und 2013 ist der Anteil der Menschen in Deutschland, die ihren Fernseher ans Internet anschließen laut einer Studie von ARD und ZDF von 2 auf 12 Prozent gesprungen. Zwar sehen bislang nur 2 Prozent TV-Sendungen übers Internet. Bei den 14- bis 29-Jährigen sind es allerdings schon 8 Prozent.

Florian Hager sitzt in einem kleinen Konferenzraum des deutsch-französischen Senders Arte. Würde sich der stellvertretende Programmdirektor umdrehen, könnte er von hier aus das Europaparlament sehen, das nur ein paar hundert Meter entfernt steht. Er plant gerade viele Wochen im Voraus, was Arte um 18 Uhr oder um 22 Uhr senden soll, wenn ab Juni bei ARD und ZDF die Fußball-WM in Brasilien läuft. Das ist der eine Teil seines Jobs. Hager macht so richtig klassisches Fernsehen.

Gegenprogrammierung heißt das in den Sendeanstalten: Sat.1 zeigt lieber einen männeraffinen Film, wenn RTL seine erfolgreiche Castingshow „Deutschland sucht den Superstar“ mit Dieter Bohlen sendet. Es geht darum, die meisten der Zuschauer abzugreifen, die noch übrig bleiben. Während einer Weltmeisterschaft sind das nicht viele.

Um ein paar von denen zu Arte zu locken, haben sich an diesem Nachmittag im März neun Abgesandte aus den Programmbereichen Kultur, Information, Fiktion und aus der Zuschauerforschung um einen viereckigen Konferenztisch versammelt. Alle haben DIN-A3-Zettel vor sich liegen. Darauf stehen die Programmschemata: Welche Sendung kommt wann? Welche wird von Arte produziert, welche von den öffentlich-rechtlichen Partnersendern in Deutschland? Welche Abteilung ist zuständig und wann wird eine Erstausstrahlung wiederholt? Die Ausdrucke sind in vielen farbigen Schattierungen gehalten. Die 64 Spiele der Fußball-WM sind mit rotem Filzstift darüber gezeichnet. So sieht das klassische Fernsehen aus der Perspektive seiner Macher aus. Geregelt wie ein Fahrplan der Bundesbahn.

Soll der Bereich Historie, dessen Publikum eher ein maskulines ist, tatsächlich gegen die ebenfalls mehr von Männern geschaute Fußball-Nachberichterstattung laufen? Fiktion sei vielleicht besser, weil weiblicher, sagt Hager in die Runde. Die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Programmbereiche sprechen Französisch und Deutsch und sie sprechen es wild durcheinander. Vor ihnen liegen Textmarker, Kugelschreiber, Leitz-Ordner. Drei Flachbildfernseher hängen an der Wand. Nach 35 Minuten erreichen die Planerinnen auf ihren großen Zetteln den ersten Sonntag. Tag vier von 32 WM-Tagen. Nach einer guten Stunde bricht Hager ab. Immerhin eine Woche Gegenprogrammierung ist geschafft.

„Es ging um die Quote, eigentlich ein Unding bei Arte“, sagt er auf dem Weg den Flur hinunter zu seinem Büro. Seit Anfang 2013 ist Hager nicht nur Vize-Programmdirektor sondern auch Hauptabteilungsleiter Programmplanung TV und Web bei Arte.

Das ist der andere Teil seiner Arbeit. Florian Hager soll diese Welten verbinden: das lineare Fernsehen mit seinem 20.15-Uhr-Zwang und das Internet, wo man so ziemlich alles zu jeder Zeit bekommt. „Mein Job ist es, mit unseren Inhalten die größtmögliche Gruppe an Nutzern zu erreichen“, sagt Hager. Über welchen Kanal, ist ihm egal.

Hager war nie Punk. Er war nie einer von den Coolen. Sagt er. Er ist aufgewachsen auf der Schwäbischen Alb. Lehrerhaushalt. Fernsehen war gefährlich – wie fettige Chips und saurer Regen. Also schaute er die US-Serie „Trio mit vier Fäusten“ bei Kumpels.

Heute ist Hager 38. Er trägt einen kleinen Bart zwischen Kinn und Unterlippe, Jeans, ein graues Sakko und eine abgewetzte Umhängetasche. Bis er 18 war, genoss er eine klassische Geigenausbildung. Aus den meisten klassischen Konzerten, die Arte gerne zeigt, hat er schon Stücke gespielt. Das hilft. Ihm macht keiner der alten Fernsehmacher im Sender etwas vor, wenn es um Hochkultur geht.

Auf einem der Monitore an der Wand seines Büros aktualisieren sich ständig die verschieden Websites aus dem Arte-Kosmos. Das Musikportal „Arte Concert“, die Wissenschafts- und Gesellschaftsseite „Arte Future“, „Arte Info“ oder die eigene Mediathek „Arte +7“. Das Tool für die Übersicht hat sich Hager extra programmieren lassen.

Arte, dieses aus französischen und deutschen Gebührengeldern finanzierte Fernsehkonstrukt, macht viel im Internet. Von der französischen Politik gibt es dafür auch einen klaren Auftrag – und ein Budget. Die Öffentlichen-Rechtlichen in Deutschland sind hingegen deutlich weniger frei: Alles, was sie im Internet machen, muss sich auf das Programm beziehen. Länger als sieben Tage darf das meiste in den Mediatheken nicht abrufbar sein. Dafür haben die deutschen Verleger und die privaten Rundfunkanbieter gekämpft, denn sie fürchten die gebührenfinanzierte Konkurrenz der Öffentlich-Rechtlichen. Die sollen sich aus dem Internet möglichst raushalten und nur Fernsehen machen. Linear. Fürs Wohnzimmer. So wie die vergangenen Jahrzehnte.

Dieses lineare Fernsehen sieht Hager auf dem zweiten Bildschirm in seinem Büro. Der zeigt alle Möglichkeiten, sich Arte anzuschauen – unter anderem das Programm, das aus dem Kabelnetz in Deutschland herauskommt, und jenes, das via Satellit in Frankreich verbreitet wird. 46 Millionen Menschen in Deutschland schauen pro Jahr mindestens 15 Minuten Arte. „Das lineare Fernsehen ist immer noch der wichtigste Ausspielweg“, sagt Hager, „machen wir uns nichts vor.“

Auch Stefan Schulz, dem Watchever-Chef, ist klar, dass die große Mehrheit zurzeit noch ganz normal fernsieht. Die Älteren schauten 2013 sogar ein paar Minuten mehr als im Jahr zuvor. Es gibt also noch mehr als genug Konsumenten, die genau das wollen: konsumieren – am besten ohne vorher lange suchen zu müssen. Deshalb funktioniert dieses Fernsehen nach Programmschemata immer noch ganz gut. Jeder weiß, was sonntags um 20.15 Uhr im Ersten läuft. Man kann seine Uhr danach stellen und sein Leben gleich mit. Viele mögen das.

Deshalb sitzen Hager und seine Kollegen mit ihren Plänen bei Arte im Konferenzraum. Sie versuchen vorherzusagen, was das Publikum erwartet.

Bisher konnten sich die Planer darauf verlassen, dass die jungen Leute doch irgendwann wieder anfingen, mehr fernzusehen. Nämlich dann, wenn sie älter wurden. Bisher gab es allerdings auch nicht die superschnellen Internetverbindungen – und all die Filme, Serien und YouTube-Clips. Gegen Bezahlung – oder auch ohne. Es könnte sein, dass die Jungen nie mehr zu ARD, RTL oder Arte zurückfinden. Denn das Publikum lernt gerade, nicht mehr alles zu schlucken, was die Sender servieren. Es lernt, sich selbst zu bedienen.

Jessica Falzoi zum Beispiel, die nicht nur als Lehrerin arbeitet, sondern auch Kurzgeschichten veröffentlicht, kann nicht einmal dem Prunkstück der deutschen Fernsehunterhaltung etwas abgewinnen – dem „Tatort“. Die Dialoge findet sie „so was von peinlich“. Und: „Diese Charaktere entwickeln sich nicht. Es ist immer der gleiche Scheiß.“

Falzoi möchte sich so etwas nicht mehr vorsetzen lassen. „Die Zuschauer haben keinen Bock mehr, verarscht zu werden“, sagt Florian Hager, „und das ist gut.“ Er glaubt, dass er zu den Gewinnern gehören wird. Denn Arte macht zwar noch immer lineares Programm, aber Hager findet, sein Sender biete Wertvolles an, nutzerfreundlich.

Auch Stefan Schulz hält sich in dem Start-up-Büro in Berlins Mitte für einen der künftigen Sieger. Er ist sicher, „dass das, was in Amerika passiert ist, irgendwann in den nächsten vier Jahren hier auch stattfindet“.

In den USA wird Netflix, dessen ziemlich exakte deutsche Kopie Schulz’ Firma Watchever ist, nicht nur an der Börse gehandelt und hat mehr Zuschauer als der Kabelsender HBO, der auch für ausgezeichnete Serien bekannt ist. Netflix produziert mittlerweile sogar eigene Serien wie den Politthriller „House of Cards“.

Das Videoportal will seinen Zuschauern genau das geben, was sie gerade wollen. Und im Augenblick wollen sie Serien. Am liebsten am Stück und nicht Woche für Woche. Weswegen Netflix immer gleich die ganze Staffel veröffentlicht.

Für Portale wie Netflix und Watchever geht es nicht mehr darum, mit einer bestimmten Sendung zu einer bestimmten Zeit besonders viele Zuschauer dazu zu bringen, sich vor das Gerät in ihrem Wohnzimmer zu setzen. Sie müssen ihre Kunden binden. Am allerbesten funktioniert das mit Serien, die eine dauerhafte Anziehungskraft entwickeln, weil sie nicht abgeschlossene Episoden aneinanderreihen, sondern eine Hunderte Minuten lange Geschichte erzählen.

Der Journalist Brett Martin zeichnet in seinem Buch „Difficult Men“ nach, dass Serien wie „The Wire“ nur zu solchen Erfolgen werden konnten, weil ihre Autoren ungewöhnliche Freiheiten hatten. Die Sender gaben ihnen Zeit und Raum und hielten manchmal auch schlechte Quoten lange aus. Immer wieder prägten Schriftsteller die Episoden, nicht nur Drehbuchautoren.

Eine gute Serie ist wie ein Auslandssemester

Dadurch hat sich etwas verschoben. Das Image dessen, was über einen Fernsehbildschirm laufen kann, hat sich durch solche Serien verbessert. Manche sind dabei, Klassiker zu werden, die gesehen haben sollte, wer sich als bildungsnah betrachtet.

Jessica Falzoi hat die roten Vorhänge zugezogen, die roten Stühle in drei Reihen aufgestellt, ihren Laptop an den Beamer angeschlossen. Nach und nach kommen die Schülerinnen und Schüler aus der siebten, achten und neunten Klasse in den Raum. Es ist Montagnachmittag, Britisch Comedy Club in der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Serienschauen als Unterricht. Falzoi trägt Cowboystiefel. Ihre orangeblonden Haare fallen auf ihr Top mit Leopardenfellmuster. „Subtitle or no subtitle“, fragt sie. Ein Murmeln. „No subtitles, okay“, sagt Falzoi. Auf dem Plan des Britisch Comedy Club steht heute „Fawlty Towers“, eine Serie über den abgedrehten Hotelbesitzer Basil Fawlty und seine Herberge. Ein Klassiker. Es ist still. Alle hören zu. Eineinhalb Stunden lang.

Für Falzoi als Englisch-Lehrerin macht vor allem der Original-Ton die Faszination aus. Man lernt über all die Dialekte und Slangs viel besser Englisch. Man bekommt einen eigenen Akzent.

Es sei fast wie ein Auslandssemester, sagt sie. Die Schüler lebten im Grunde ein paar Wochen oder Monate mit einer Familie.

Parasoziale Interaktion nennen es Medienwissenschaftler. Man will Menschen kennenlernen. Mitleiden. Und wissen, wie es weitergeht.

Das hat schon immer die Faszination von Serien ausgemacht, auch als im September vor 60 Jahren die erste Familienserie der ARD anlief: „Unsere Nachbarn heute Abend: Familie Schölermann“ zeigte das Leben einer Familie im Nachkriegsdeutschland, und fast alle, die damals einen Fernseher hatten, sahen zu.

Nur sind die Stoffe heute stärker, die Handlungen ausgefeilter, der Suchtfaktor ist größer. Es gibt Schüler, die fehlen wochenlang im Unterricht, weil sie Serien schauen, erzählt Christian Holzmann, der in Wien Unterricht mit den neuesten Serien an einem Gymnasium anbietet. Donnerstags, 17 bis 19 Uhr.

Nach mehreren Wochen Abwesenheit konnte einer dieser Schüler deutlich besser Englisch, er hat seinen Abschluss locker geschafft, erinnert sich Holzmann. Er selbst steht manchmal um 5 Uhr auf, um ein paar Stunden lang die Geschichte einer kalifornischen WG von Physiker-Nerds mitzuverfolgen. „The Big Bang Theory“ läuft auch im deutschen Fernsehen. Holzmann sagt, die Serie stärke den Wortschatz, weil darin „alle schwierigen englischen Worte, die kein Mensch aussprechen kann, endlich mal ausgesprochen werden“. Auch Holzmann schaut immer weiter: „Es ist einigermaßen schwer loszukommen.“

Und auch Christian Holzmann sagt, dass er eigentlich nicht fernsieht.

In seinem Unterricht analysieren sie die Geschichten, wann man aussteigt, warum man hängenbleibt.

Gibt es mittlerweile schon einen Serien-Kanon, den er empfehlen kann? Er nicht, sagt Holzmann, aber die Schüler: „Da sitzen die wahren Spezialisten.“

242

Minuten sehen Deutsche pro Tag durchschnittlich fern. Die 14- bis 29-Jährigen schauen nur 123 Minuten Quelle: AGF/GfK: 1. Halbjahr 2013

169

Minuten sind die Deutschen am Tag durchschnittlich online. 16 Prozent von ihnen schauen sich dabei Videos an Quelle: ARD-ZDF Online Studie 2013

4

Prozent der deutschen Haushalte nutzen Video-on-Demand. Das sind etwa 2,5 Millionen Menschen Quelle: Media Perspektiven 2/13

28

Prozent der Haushalte in den USA nutzen Video-on-Demand Quelle: Media Perspektiven 2/13

4

bis 5 Millionen Euro pro Folge sollen viele US-Serien kosten Quelle: d-trick.de, Blog des Regisseurs Dietrich Brüggemann

500.000

bis 800.000 Euro soll eine Folge einer deutschen Serie kosten. Eine Episode des „Tatorts“ kostet etwa 1,4 Millionen Quelle: d-trick.de, ARD

Zu dem Kanon, den seine Schüler so aufstellen, gehört „Game of Thrones“, eine Mischung aus Mafia-Epos und Fantasy-Märchen. Und „Sherlock“, eine Reinkarnation des berühmten Detektivs im London von heute. Vielleicht ist bald auch „Braquo“ dabei.

Stefan Schulz käme das sehr gelegen. Er steht an einem Freitagabend im Februar vor einer Leinwand in einem überfüllten Raum, trägt Stiefel, Jeans, eine schwarze Jacke, die nach Motorradfahren aussieht, und sagt: „Herzlich Willkommen zur Deutschland-Premiere von ‚Braquo‘. Ich bin ein bisschen beeindruckt.“

In einem Hinterhof in Berlin-Kreuzberg haben sie den Schriftzug „Braquo“ an eine Wand projiziert. Draußen gibt es französische Bratwurst-Sandwiches, drinnen schenken sie Drinks aus, die Absolut Watchever oder Absolut Braquo heißen. Die Bedienungen sind ganz in Schwarz gekleidet und haben schwarze Wollmützen auf. Ein bisschen wie die Pariser Bullen, die in „Braquo“ ein Verbrechen nach dem anderen begehen.

Auch das ist etwas, was diese Serien so sehr auszeichnet, dass es fast schon zu einer Masche geworden ist: Die Guten können auch die Bösen sein. Und andersherum.

Viele, die in den Kreuzberger Hinterhof gekommen sind, sehen mit ihren engen Hosen und den weiten Schals aus, als wäre das hier eine Hipster-Party.

„Wir wollen euch immer wieder gute Argumente liefern“, sagt Stefan Schulz, „warum es sich lohnt, bei uns zu bleiben.“

„Braquo“, die Serie über die harten Bullen, soll eines dieser Argumente sein. Sie haben Folterfotos an Journalisten verschickt, als Werbung, und Knarren aus Pappe, als Einladung. Man könnte das hier für die Premierenfeier eines Berlinale-Films halten.

Schulz hat ein eigenes Team, das zusätzliche Argumente aufspüren soll, auf Watchever Videos zu schauen. Dazu zählen auch Dokumentationen, Arthouse-Filme. Er selbst fliegt ein, zwei Mal im Jahr nach Los Angeles, um sich von den Studios in den USA die neuesten Serien vorführen zu lassen.

In der eigenen Familie kann Stefan Schulz die Zukunft schon beobachten. Ein Sohn, eine Tochter. Ein iPad, ein Kindle Fire, ein Android-Tablet. Der Sohn, 16, guckt „Hostel“, also einen Horrorfilm. Die Tochter, acht, schaut „Dance Academy“, Tanzen. Stefan Schulz mag es „edgy“, grenzwertig, aber seiner Frau gefällt sein Humor nicht. Jeder guckt also auf seinem Gerät. Wenn sich die Interessen überschneiden, schauen sie auch mal zusammen – eher selten. Ist vielleicht schade, findet Schulz, aber ist eben so.

Beim neuen Fernsehen hat der Einzelne mehr Macht. Er kann sich holen, was er möchte. Der alte Makel der Verblödungsgefahr schwindet auch deshalb, weil man sich nicht mehr berieseln lässt, sondern selbst entscheidet. Da die Auswahl allerdings von A wie Arte über W wie Watchever bis Z wie ZDF-Mediathek reicht, ist das anstrengend. Diese neue Art fernzusehen, lässt sich auch als Gradmesser dafür betrachten, wie viel Mühe dem Publikum ein besseres Fernsehen wert ist.

„Der Mensch mag sich nicht, in dem, was er guckt, aber er guckt es trotzdem“, hat Roger Willemsen einmal in einer „Rede zur Lage des Fernsehens“ gesagt.

Ist es damit vorbei? Die Ausrede, es laufe doch nichts Besseres, gilt jetzt jedenfalls nicht mehr. Damit hängt die grundsätzliche Frage zusammen, was Menschen, die auf Bildschirme starren, erwarten.

Stefan Schulz formuliert das so: „Ich will in einer von mir zu wählenden Situation auf ein Entertainmentprodukt zugreifen können, was mich entweder in Stimmung bringt oder mich von meiner aktuellen Stimmung ablenkt oder mich in meiner aktuellen Stimmung bestätigt, und ich will selber entscheiden, wann es startet und endet.“

Das klassische Fernsehen, also ARD oder RTL, versuchen immer noch mit einer relativ großen Zahl an Filmen und anderen Sendungen eine möglichst große Masse zu erreichen. Die Erfolgsquote der anderen, also Watchever oder Netflix, hängt eher davon ab, wie zufrieden jeder Kunde mit dem Programm ist, das genau für ihn von Algorithmen berechnet und zusammengestellt wird. Mit den Empfehlungen von Filmen oder Serien, die auf seiner Startseite erscheinen.

Das ist einerseits eine neue Freiheit, die das Angebot für den Einzelnen deutlich zu vergrößern scheint. Andererseits ist der Zuschauer nur frei in dem engen Raum, den Algorithmen ihm lassen. Langfristig könnte so eine audiovisuelle Filterblase entstehen. Man sieht nicht mehr mal zufällig irgendwas, das einen eigentlich gar nicht interessiert, aber interessieren könnte. Der Horizont auf den personalisierten Plattformen ist enger. Zumindest, wenn man nicht selbst bis in die Tiefen stöbert.

In Florian Hagers Büro hängt ein Spruch: „Ich schaue mir die Doku auf Arte an. Ich weiß zwar nicht, wovon die da reden, aber ich schaue es. lol :p“, hat ein französischer User auf Twitter geschrieben. Hager hat es sich ausgedruckt. Arte gucken schmückt. Wie die Tolstoi-Gesamtausgabe im Regal. Hager aber reicht das nicht, er will die Zuschauer überzeugen. Die Leute sollen wissen, warum sie genau jetzt, in diesem Moment seinen Sender gucken. Schließlich könnte der nächste Klick immer noch etwas Besseres im Internet zutage fördern. Deshalb muss Arte etwas zu bieten haben.

Florian Hager will neue Möglichkeiten und alte Gewohnheiten versöhnen – zum Beispiel, indem der große Flachbildschirm im Wohnzimmer ans Internet angeschlossen wird. Mit dem entsprechenden Fernseher können Arte-Zuschauer den 20.15-Uhr-Film jetzt schon erst um zwanzig nach acht oder um neun starten. Doch Hager will noch einen Schritt weiter gehen. Wer Arte einschaltet und auf einen speziellen Knopf der Fernbedienung drückt, soll aus einem Angebot von Inhalten wählen können: einem Film, einem Konzert oder einer Doku. Arte wird so zum Kurator von Inhalten und trifft eine Vorauswahl. Technisch wäre das längst möglich. Nur bei der Auswahl der Inhalte gibt es noch rechtliche Probleme. Fernsehsendungen – egal ob Filme, Serien oder Dokus – dürfen normalerweise erst nach ihrer Ausstrahlung im linearen Programm übers Internet angeboten werden. Solche Bestimmungen bremsen Hager noch. Sie wirken angesichts der Konkurrenz von Amazon bis YouTube immer antiquierter.

Je mehr die Videoplattformen dominieren, desto mehr entwickelt jeder seine eigene Geschwindigkeit beim Entdecken. Wie damit ein Erfolg über die Zeit wachsen kann, zeigt am besten immer noch „Breaking Bad“. Am Anfang wurde die Erzählung über einen Chemielehrer, der zum Drogenfabrikanten wird, nur mäßig beachtet. Nur weil sie dauerhaft bei Netflix abrufbar war, entdeckten immer mehr Menschen die Serie, sie wurde zu einem weltweiten Blockbuster. In Deutschland lief sie bei Arte. Und läuft noch immer auf diversen Videoportalen, weltweit.

Ein völlig anderes Geschäftsmodell, als mit einer Episode, einem Film, an einem Abend möglichst viel Quote machen zu wollen.

Eines allerdings, das die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland gar nicht verfolgen können, weil sie eine komplette Serie nicht im Netz anbieten dürfen. Das führt dazu, dass das ZDF eine seiner besten Serien nicht zeigen kann – „Kriminaldauerdienst“ erzählt vom Arbeitsalltag einer Berliner Polizeieinheit. Die Geschichte wurde mehrfach ausgezeichnet. Und sie läuft jetzt bei Watchever. Bei Stefan Schulz.

Johannes Gernert, 33, ist sonntaz-Redakteur. Er wuchs mit einem Schwarz-Weiß-Fernseher und „Löwenzahn“ auf

Jürn Kruse, 29, leitet das Ressort taz2/Medien. Wenn er als Kind fernsehen wollte, musste er dafür mit Chips aus Pappe bezahlen