: Atomgegner gehen zur Offensive über
Die Friedenspflicht nach dem Atomkonsens war ein Fehler, sagen Umweltschützer. Sie habe die Öffentlichkeit in Sicherheit gewogen und Spielraum für Risikomeiler geschaffen. Am 4. November wird demonstriert – in Brunsbüttel
HAMBURG taz ■ Das Atomkraftwerk Brunsbüttel ist „eine der unsichersten Anlagen Deutschlands“. Sagt Hans-Jörg Lüth, Geschäftsführer des BUND-Landesverbandes Schleswig-Holstein. Dass der Altmeiler an der Elbe trotzdem weiterläuft, sei eine indirekte Folge des Atomkonsenses: „Die Reaktoren waren relativ sicher, weil die Öffentlichkeit sensibilisiert war und die Wissenschaftler kritisch blieben“, glaubt Gerd Rosenkranz von der Deutschen Umwelthilfe (DUH). Seit Politik und Betreiber den Ausstieg auf Raten vereinbart haben, scheint das Thema abgehakt. „Es gab eine Art Friedenspflicht“, sagt Jochen Stay vom Bündnis „x-tausendfach quer“.
Die Vertreter der drei Verbände waren sich gestern in Kiel darüber einig, dass das ein Fehler war. Während die Medien früher selbst über „eine explodierte Kaffeemaschine in Biblis“ berichtet hätten, sei die Diskussion um das AKW Brunsbüttel heute schnell wieder verstummt.
Der Reaktor war im August in die Schlagzeilen geraten, nachdem es in einem ähnlichen AKW des gleichen Betreibers – Vattenfall– in Schweden einen Störfall gegeben hatte. Die Probleme seien aber längst nicht ausgeräumt, so Rosenkranz. Vor allem geht es um die Notstromversorgung bei Störfällen. Vattenfall erklärt, es gebe mehrere unabhängige Systeme, damit sei „jedes Risiko abgedeckt“. Rosenkranz: „Die Sicherung ist nur für bestimmte Störfälle gedacht.“
Die DUH drängt auf Einsicht in die aktuelle Mängelliste. „Entweder es steht nichts Dramatisches drin, dann muss man es nicht wie ein Staatsgeheimnis behandeln“, sagte Rosenkranz. Oder es gebe gravierende Mängel – „dann muss die Öffentlichkeit das wissen“.
Vattenfall hatte zunächst zugestimmt, es sich dann aber wieder anders überlegt. Zurzeit prüft das Kieler Sozialministerium als Atomaufsichtsbehörde. Rosenkranz kritisierte die „Kungelmentalität“. Die Gutachter der Aufsichtsbehörde und die Betreiber würden oft jahrelang über Mängel diskutieren. „Dabei müssen die Behörden Druck machen und auch den Gang vor Gericht wagen“, sagte Rosenkranz. Das Ministerium teilte gestern mit, es sehe keine Defizite, die eine Stilllegung erzwängen. „Es gibt auch keine Liste mit zahlreichen Nachrüstungsforderungen“, sagte Ministerin Gitta Trauernicht (SPD). Sie werde „zügig entscheiden“, ob die DUH die Informationen erhält. Falls nicht, überlegt der Verein, auf die Herausgabe zu klagen.
Die Atomgegner sehen die Zeit auf ihrer Seite: Anders als in den Anfangstagen der Bewegung können Verbraucher heute ihren Stromversorger wählen. Zehn Verbände haben sich zur Kampagne „Atomausstieg selber machen“ zusammengetan und rufen dazu auf, Ökostrom zu kaufen. Außerdem soll es wieder auf die Straße gehen. Das neue Bündnis „AKW Brunsbüttel stilllegen“ demonstriert am 4. November. ESTHER GEISSLINGER