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Archiv-Artikel

Den Teufel herausgefordert

Vier Autoren erklären in Analysen und Berichten, wie die „bolivarianische“ Regierung in Venezuela erfolgreich arbeitet. Endlich kommt der Ölreichtum auch den Armen zugute

Wenn man in diesen Tagen nach Caracas kommt, dann sieht man oft die mobilen Registrierungskommandos der Regierung. Unter Hugo Chávez ist die Wahlbevölkerung explodiert: In den 15 Jahren von 1983 bis 1998 – das musste kürzlich die stramm oppositionelle Tageszeitung El Universal vermelden – stieg die Anzahl der gemeldeten Wähler lediglich von etwa 8 Millionen auf 11 Millionen, nach seinem Amtsantritt 1998 bis letztes Jahr jedoch auf fast 15 Millionen.

Alle Wahlen seither, von den westlichen Wahlbeobachtern streng kontrolliert, hat der Präsident mit klarer Mehrheit gewonnen. Und für die nächste Wahl im Dezember besitzt er einen deutlichen Vorsprung. Dennoch wüten venezolanische Oppositionelle im Gespräch, Hugo Chávez sei ein Volksverführer und Diktator – und deutsche Medien übernehmen diese Propaganda.

Angesichts dieser Situation ist das Bedürfnis linker Autoren verständlich, die Regierung gegen Vorwürfe in Schutz zu nehmen. In den letzten Wochen sind gleich vier Titel erschienen, die sich mit Venezuela befassen: von Ernst Fürntratt-Kloep, Ingo Niebel, Dario Azzellini und Eva Golinger. Diese Bücher weisen erhebliche Ähnlichkeiten untereinander auf, was schlicht damit zu tun hat, dass in ihnen die venezolanische Geschichte, vor allem jene der letzten acht Jahre, ausführlich erzählt wird. Allerdings gibt es unterschiedliche Schwerpunkte: Bei Niebel und Golinger geht es um die Verwicklung der USA in die Versuche, Hugo Chávez zu stürzen. Fürntratt-Kloep und Azzellini beleuchten mehr die soziale Entwicklung des Landes nach der von Chávez ausgerufenen „bolivarianischen Revolution“.

Seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez fühlen sich die USA herausgefordert. Ein Sozialreformer und Castro-Freund, der zudem Präsident George W. Bush sogar als „Teufel“ beschimpft hat, liegt nun wirklich nicht im Interesse der derzeitigen US-Führung. Im Jahre 2002 gab es einen gewaltsamen Putschversuch der Opposition gegen den Präsidenten.

Diese „Opposition“ besteht hauptsächlich aus den ehemaligen Profiteuren des Rentenstaates, die ihre Privilegien nicht aufgeben wollen. Der damalige Putsch schlug fehl. Ein Jahr später versuchte jene Nomenklatura vor allem in der Ölindustrie, die Wirtschaft des Landes lahmzulegen. Doch auch hier behielt der Präsident die Oberhand.

In beide Ereignisse waren die USA verwickelt, wie die Anwältin Eva Golinger belegen kann. Sie hat den Freedom of Information Act in Anspruch genommen und konnte so eine Reihe von Regierungsdokumenten einsehen. Sie belegen, dass die USA die „Opposition“ mit Geld, Logistik und Propaganda unterstützt haben. Golinger beschreibt das US-Engagement in allen Einzelheiten – mit dem manchmal etwas übertrieben klingenden Pathos der Anklägerin. Allerdings geht es ja auch um nicht weniger als den geplanten Sturz eines mit deutlicher Mehrheit demokratisch gewählten Präsidenten. Leider ist die Übersetzung aus dem Amerikanischen katastrophal.

Um Golingers Buch genau verstehen zu können, bedarf es schon einiger Lektionen in venezolanischer Geschichte – und die liefert der Historiker Ingo Niebel. Er breitet das ganze Panorama des Staatsstreichs im Kontext aus. Es handelt sich um einen Vorgang, der aus der Geschichte Lateinamerikas wohlbekannt ist, von Guatemala bis Nicaragua. Der Unterscheid freilich besteht darin, das Hugo Chávez der sogenannten Opposition und der US-amerikanischen Einmischung bislang getrotzt hat. Und das keineswegs mit diktatorischen Mitteln. Selbst in Notstandssituationen hat sich die „bolivarianische“ Regierung an rechtsstaatliche Verfahren gehalten.

Und ihre Erfolge sind beachtlich. Nach Jahrzehnten der gescheiterten Alphabetisierungsprogramme hat die Unesco das Land für analphabetenfrei erklärt. Die Gesundheitsversorgung ist mittlerweile auch in den Vierteln der Armen durchweg gewährleistet; die internationalen Organisationen ziehen ihr Personal ab. Das Bildungssystem hat eine kreative Umgestaltung und Dezentralisierung erfahren. Über 100.000 Kooperativen sind entstanden – der Staat fördert es, wenn die Bürger sich zusammentun und ein kleines Unternehmen gründen.

Tatsächlich geht es bei vielen Maßnahmen darum, dass die Menschen, zumal die Armen, Verantwortung für ihr Leben und ihre Umgebung übernehmen. Das ist etwas ganz Neues in einem Ölstaat, in dem lange Jahre nur darauf gewartet wurde, wie viel von den Ölmilliarden nach unten durchgereicht wird. Mittlerweile muss selbst der Kandidat der Opposition, Manuel Rosales, erklären, dass er die Sozialprogramme der Chávez-Regierung unbedingt weiterführen will.

Alles über die Sozialprogramme und Initiativen kann man bei dem ehemaligen Psychologieprofessor Fürntratt-Koep und bei dem Aktivisten und Filmemacher Azzellini nachlesen, wobei Letzterer zweifellos das ergiebigste Buch geschrieben hat. Dario Azzellini wird keinen Feuilletonpreis für das am elegantesten geschriebene Sachbuch dieses Herbstes bekommen, aber dafür bekommt man satte Informationen aus erster Hand über Venezuela.

Beide Autoren sparen nicht mit Kritik am Präsidenten. Denn auch in Venezuela ist dieser Tage keineswegs alles Gold, was glänzt. Dennoch sind die Bücher durchaus Verteidigungsreden, wobei man bezweifeln kann, dass die Chávez-Gegner für Statistiken und Argumente zugänglich sind. Gegen Ressentiments ist eben wenig auszurichten. Dabei wäre es höchst lohnenswert, über die venezolanische Erfahrung zu sprechen. Jeder Besuch im Land macht schnell klar, wie viel man in Deutschland von den dortigen Initiativen lernen könnte – vor allem, was das Erfinden von kreativen Lösungen betrifft.

MARK TERKESSIDIS

Dario Azzellini: „Venezuela Bolivariana. Revolution des 21. Jahrhunderts?“ Neuer ISP-Verlag, Köln 2006, 319 Seiten, 19,80 Euro Ernst F. Fürntratt-Kloep: „Venezuela. Der Weg einer Revolution“. Papyrossa Verlag, Köln 2006, 198 Seiten, 14,90 Euro Eva Golinger: „Kreuzzug gegen Venezuela. Der Chávez-Code“. Aus dem Amerikanischen von Christiane Gerhardt. Zambon Verlag, Frankfurt am Main 2006, 272 Seiten, 19,80 Euro Ingo Niebel: „Venezuela not for Sale. Visionäre gegen neoliberale Putschisten“. Kai Homilius Verlag, Berlin 2006, 334 Seiten, 18 Euro