: „Jeder lernt von jedem“
Die Entdeckung der Spiegelneuronen hat neue Wege in der Bildungsarbeit möglich gemacht. Die taz bringt den Hirnforscher Joachim Bauer und die Pädagogin Ilse Schimpf-Herken zum Gespräch zusammen
INTERVIEW UTE SCHEUB
taz.mag: Spiegelneuronen gelten als neuester Schrei der Hirnforschung. Damit sollen sich nahezu alle Gemeinschaftsphänomene – vom kulturellen Lernen bis hin zum Fußballspiel – erklären lassen. Was steckt hinter diesen Wunderzellen?
Joachim Bauer: Die Spiegelneuronen werden immer dann aktiv, wenn wir Handlungen und Empfindungen von anderen Menschen beobachten. Sie schwingen sozusagen mit und sorgen für eine innere Simulation des beobachteten Vorgangs. Das ähnelt der Resonanz von Gitarrensaiten: Wenn man die G-Saite einer Gitarre anzupft, schwingen bei benachbarten Instrumenten die G-Saiten mit. Die Spiegelnervenzellen setzen in unserem Gehirn ein ähnliches Geschehen in Gang wie jenes, das wir bei anderen beobachten.
Das heißt, diese Neuronen feuern nicht nur, wenn ich mich in den Finger schneide – sondern auch, wenn ich sehe, wie Sie sich schneiden?
Bauer: Richtig. Es geht sogar noch weiter: Wenn Sie zu einer bestimmten Handlung nur ansetzen, kann ich – aufgrund des in meinem Gehirn ausgelösten Spiegeleffektes – Ihre Absicht bereits in mir wahrnehmen, bevor Sie die Handlung zu Ende gebracht haben. Das ist auch der Grund, warum die Fußballteams siegen, die auf koordinierte Bewegungsabläufe eingespielt sind.
Demnach wäre die Fußball-WM aus Sicht des Hirnforschers ein Tanz der Spiegelneuronen?
Bauer: In gewisser Weise ja. Spieler eines Teams müssen in Sekundenbruchteilen die Bewegungsabläufe ihrer Mitspieler und Gegner voraussehen, sie haben keine Zeit, darüber lange nachzudenken. Das Wissen darüber muss in intensivem Training erarbeitet und eingeübt werden. In der Wettkampfsituation wird dieses intuitive Wissen dann durch die Spiegelzellen abgerufen und umgesetzt.
Ilse Schimpf-Herken: Diese Resonanz findet nicht nur auf dem Platz statt, sondern auch zwischen Spielern und Zuschauern. Bei Fußballspielen fiebern ganze Nationen vor dem Fernseher mit. Alleine über das Mitsehen, also über die Spiegelneuronen, fühlen sich die Zuschauer als Teil des Spiels – ein wichtiges identitätsstiftendes Moment.
Bauer: Jeder, der einmal Fußball gespielt, Salsa getanzt oder im Chor gesungen hat, weiß, was für Energien sich dabei übertragen. Mit anderen in Resonanz zu treten ist ein biologisches Bedürfnis. Jeder spürt die Magie des Zusammenspiels über Töne oder Körpersprache. Uns in Gemeinschaft zu erleben, setzt Energien frei und gibt Kraft.
Frau Schimpf-Herken, Sie arbeiten seit vielen Jahren pädagogisch mit Resonanzprozessen. Können Sie Ihre Bildungsmethode erklären?
Schimpf-Herken: Ich habe mich von dem brasilianischen Befreiungspädagogen Paulo Freire anregen lassen. Der stellte in den 60er-Jahren bei seiner Arbeit mit den Armen im Nordosten Brasiliens fest, dass die Menschen sich nichts zutrauten. Die Normen des Erziehungssystems suggerierten ihnen, sie seien nichts wert, weil sie nicht lesen und schreiben konnten. Freire hörte den Menschen zu, statt sie zu demütigen. Er schuf Kulturzirkel, damit die Menschen sich ihr Leben erzählten und voneinander lernten. Er ermöglichte Resonanz, Dialog, gegenseitige Anerkennung. Dadurch bekamen die Menschen die Chance, die eigenen Potenziale zur Veränderung ihrer Lage zu entdecken. Wer einmal in seinem Leben eine solche Erfahrung gemacht hat, vergisst das niemals. Inzwischen arbeite ich nach dieser Methode unter anderem mit chilenischen Lehrern und Lehrerausbildern, die für einige Monate nach Deutschland kommen.
Und warum nennen Sie Ihre Methode „Sich im Anderen wiedererkennen“?
Schimpf-Herken: Menschen, die die chilenische Militärdiktatur erlebten, begegnen hier Menschen, die Nazideutschland erlebten. Ihre eigene Diktaturerfahrung spiegelt sich in der der anderen. Neulich haben wir die KZ-Gedenkstätte Buchenwald besucht, und ein Chilene blieb lange vor einem hellen Fleck an einem Gebäude stehen. Später sagte er: „Ich zittere immer noch, denn ich erinnerte mich wieder, dass meine Mutter am Putschtag das Bild des getöteten sozialistischen Präsidenten Allende von der Wand nahm und ein heller Fleck übrig blieb.“ Zwanzig Jahre lang hatte er das Thema beschwiegen. Erst durch die behutsame pädagogische Begleitung konnte er das Verdrängte rekonstruieren und bearbeiten. Ähnlich ging es anderen. Das verbindet die Teilnehmer bis heute.
Bauer: Um uns selbst zu erkennen, um zu spüren, wer wir sind, brauchen wir den Blick des Anderen, der uns als Person sieht. Wir brauchen die Erfahrung, von einem anderen Menschen „gesehen“ worden zu sein. Besonders Kinder fühlen sich oft zu wenig „gesehen“. Umso bedeutsamer bleibt in einem solchen Kind der Eindruck haften, von einer Lehrerin oder einem Lehrer als ganze Person wahrgenommen worden zu sein. Es kann eine entscheidende Erfahrung im Leben eines gewalttätigen Jungen sein, wenn ihm jemand sagt: Ich kann mir vorstellen, dass du vielleicht einmal ein ganz toller Trainer oder Sportlehrer wirst.
Welche Konsequenzen könnte die Spiegelneuronenforschung für die Arbeit mit Menschen haben, die an verdrängten Traumata leiden?
Schimpf-Herken: Diese Menschen funktionieren im Alltag, aber wenn wir ihr Trauma umstandslos zu spiegeln beginnen, entsteht im schlimmsten Falle eine Retraumatisierung. Wir sprechen ihr Trauma nicht direkt an, sondern spiegeln es, indem wir Erfahrungen aus unserer eigenen traumatischen Geschichte erzählen. Das ermöglicht ihnen, mit sich selber in einen selbstbestimmten Monolog zu treten, der gegebenenfalls zu einem Dialog wird.
Bauer: Ein anderer Aspekt des Spiegelgeschehens ist, dass die Wahrnehmung eines anderen Menschen in uns auch das wachruft, was derjenige weggelassen hat, zum Beispiel aus Angst oder Scham. Das System der Spiegelzellen kann es möglich machen, dass wir auch dort weiterfühlen können, wo der andere es nicht mehr kann. Wenn Sie erzählen und mitten im Satz abbrechen, werde ich das in vielen Fällen ergänzen können, weil mein Spiegelsystem den Rest dieser Sequenz enthält.
Herr Bauer, Sie schildern in Ihrem Buch, dass wir dank unserer Spiegelneuronen am besten durch Vorbilder lernen, die wir handelnd nachahmen. Also nachspielen, simulieren, anfassen, fühlen, handeln. Müssen wir die Schule neu erfinden?
Bauer: Alles Lehren und Lernen ist eingebettet in eine Beziehung zwischen Kindern und Pädagogen. Wir brauchen nicht ein Mehr an Vorschriften oder Standards, sondern Pädagogen, die Beziehungen – auch mit schwierigen Kindern und manchmal mit noch schwierigeren Eltern – gestalten können.
Wie sollte die deutsche Schule auf die hiesigen Migrantenkinder reagieren?
Schimpf-Herken: Unser Bildungssystem lässt nur in Ausnahmen Zweisprachigkeit zu, es verbietet den Kindern ihre Muttersprache und damit auch die Anerkennung ihrer kulturellen Codes. Migrantenkinder fühlen sich vom ersten Schultag an sprichwörtlich unverstanden. Vielleicht heißt ja der heimliche Lehrplan: Beschämung. Damit die Unterklasse Unterklasse bleibt. Die Kinder fühlen sich frustriert und entwertet, und die Lehrkräfte, die sich da vorne vergeblich abstrampeln, natürlich auch. Das ist Stress für alle.
Bauer: Viele Kinder reagieren mit destruktivem Verhalten, viele Lehrkräfte mit Gesundheitsstörungen und frühzeitigem Burn-out. Sie sind Schwerstarbeiter im Klassenzimmer. Wir haben in unserer Abteilung in der Uni Freiburg eine Studie zum Thema Lehrergesundheit erarbeitet. Ergebnis: Jede fünfte Lehrkraft ist durch stressbedingte Gesundheitsstörungen massiv belastet.
Schimpf-Herken: Aber nichts von alledem ist in der Lehrerausbildung präsent. Auch ihre eigene Biografie ist niemals Thema. Aber jemand, der nie die eigenen Ängste reflektiert hat, kann kein guter Lehrer sein. Deshalb arbeite ich immer mit den Biografien der Menschen. Man kann eigene Ängste und Schwächen zum Teil eines kraftvollen Gruppenprozesses machen. Allerdings nur dann, wenn alle daran teilhaben. Wenn es keine Trennung zwischen Lehrenden und Lernenden gibt, wenn klar ist, dass jeder von jedem lernen kann.
Spiegelneuronen sind offenbar der Ort, an dem biologische in kulturelle Prozesse umgewandelt werden und umgekehrt. Der US-Neurologe Vilayanur Ramachandran sagt voraus, dass die Entdeckung der Spiegelneuronen den Wissenschaften einen ähnlichen Sprung nach vorne ermöglichen werde wie die Entdeckung der DNA. Aber bei aller Euphorie: Gibt es auch Grenzen oder Gefahren dieses neuen Ansatzes?
Bauer: Ja. Wir brauchen auch weiterhin unseren kritischen Geist. Aber ich bin froh, dass die von den Naturwissenschaften lange abgewertete Empathie durch der Entdeckung der Spiegelzellen endlich Beachtung findet. Ich glaube, dass die Resonanz zwischen Lebewesen das Newton’sche Gesetz der Biologie ist: Der innerste Antrieb der Biologie ist nicht der Kampf, sondern die Kooperation, die Beziehungsaufnahme.
UTE SCHEUB, Jahrgang 1955, ist taz-Mitbegründerin und lebt als freie Autorin in Berlin