In den Momenten des Augenaufschlagens

AUTOREN Literatur von und über Peter Handke: Malte Herwigs Biografie bietet Anlass, noch einmal neu über das Beziehungsfeld zwischen Poesie und Politik, zwischen Milosevic und Verwandlung nachzudenken. Außerdem sind zwei Bücher des Schriftstellers erschienen

Erst der Zwiespalt zwischen Macht und Poesie bringt Handkes schöpferische Produktivität in Gang

VON ULRICH RÜDENAUER

Vor gar nicht allzu langer Zeit wurde Peter Handke als aussichtsreicher Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Heute allerdings spielt er bei literarischen und anderen Buchmachern keine allzu große Rolle mehr; wer auf ihn tippt, könnte wirklich reich werden.

Wann Handkes Kurs einbrach, lässt sich ziemlich genau datieren: 1996 veröffentlichte er in der SZ den Essay „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“. Das Echo dieser poetischen Reportage war gewaltig. Handke galt fortan als verlängerter Arm der großserbischen Propagandaabteilung, das Tor war weit geöffnet für vielerlei Missverständnisse, denen der zu Jähzorn neigende Autor nicht gerade Einhalt gebot. Leisere Töne waren kaum noch zu hören, und Handkes Wut auf die „sogenannte Weltöffentlichkeit“ wuchs. Die Kritik ließ sich dazu hinreißen, Handke plötzlich als politischen Autor wahrzunehmen. Selbst bei seinen Bewunderern waren die Seufzer der Erleichterung deutlich zu hören, wenn in den Büchern nur der Dichter sprach, rein und ohne erkennbaren Jugoslawienbezug.

Handke sah sich jedoch nie und gewiss nicht in seinen Texten über das „Neunte Land“ als politischen Autor. Darüber nachzudenken bietet eine gerade erschiene Handke-Biografie Anlass: Malte Herwigs „Meister der Dämmerung“ wurde nicht zuletzt deshalb mit Spannung erwartet, weil jenes Beziehungsfeld von Poesie und Politik gerade bei einem Autor wie Peter Handke heftige Reaktionen auslöst und noch immer nicht recht ausgelotet ist.

Dabei lässt sich bereits bei einem Blick ins Frühwerk einiges zum Thema finden. „Jedes Engagement“, schrieb der 25-Jährige im Jahr 1967, „wird durch literarische Form entwirklicht: In der Geschichte wird es Fiktion, im Gedicht Poesie oder beides in beiden.“ Literatur verwandle alles Wirkliche und auch Engagement in Stil: „Sie macht die Wirklichkeit, die sprachliche, die sie zitiert, und die außersprachliche, die sie benennt, zu Spiel. Die Literatur ist unwirklich, unrealistisch. Auch die sogenannte engagierte Literatur, obwohl gerade sie sich als realistisch bezeichnet, ist unrealistisch, romantisch.“

Dieses Romantische kommt in seinen als anstößig rezipierten Balkantexten zum Vorschein. Jugoslawien hatte von Jugend an eine immense Bedeutung für Handke, seine Familie hat slowenische Wurzeln, seinen ersten Roman schrieb er auf der Insel Krk – Jugoslawien ist seine „Fantasieheimat“, und das Auseinanderfallen dieses Sehnsuchtsorts muss Handke zugleich wie die Zerstörung einer inneren Welt vorgekommen sein. Wie ein Vertriebener hält er sich an seinen Erinnerungen fest, am Augenscheinlichen, an den berüchtigten „andersgelben Nudelnestern“. Er möchte etwas bannen, das aber ohnehin lediglich in der Literatur existiert hat. In ihm.

„Wir suchen immer das Unbedingte und finden doch nur Dinge“, heißt es bei Novalis. Peter Handke schreibt dieses romantische Programm fort. Er sucht das Unbedingte in den Dingen, und zuweilen findet er es auch – an den Rändern, den Peripherien der Städte und der Wahrnehmung. Die Sehnsucht, von der Handke erfüllt ist, richtet sich zwar auf die Wirklichkeit, aber die verwandelt sich unter der Hand in etwas Magisches.

Das führt unweigerlich zu einem Dilemma, sobald das poetische Konzept an eine von realen (Macht-)Interessen bestimmte Sphäre stößt. Und der Autor sich in dieser Sphäre bewegt, dem gesuchten Kriegsverbrecher Radovan Karadzic einen Besuch abstattet oder am Grab von Slobodan Milosevic spricht. Die Haltung des Poeten bekommt dann den Ruch des Unangemessenen, Vermessenen, Verdächtigen. Es ist aber dieser Zwiespalt, der Handkes schöpferische Produktivität erst in Gang bringt. Gegen die Wirklichkeit, die er im wahrsten Sinne des Wortes begeht, setzt er die poetische Sprache, die Fantasie, etwas Anderes. Dieses Andere, das ist die Literatur – eine Form, die keine Parolen nachplappern und keine Ziele verfolgen will. Und dadurch umso angreifbarer wird.

Ruhige Sätze, die zittern

Malte Herwig liefert in seiner Biografie genügend Beispiele für Handkes Wunsch, im Nebensächlichen etwas Ungesehenes sichtbar zu machen, das Konkrete ins Ungefähre zu überführen und es so zu transzendieren. Die Widersprüche und das Schwebende als Ursprung seiner Literatur zu verstehen ist nicht nur Herausforderung für den Biografen, sondern auch für den Leser. Und Herwig versucht diesem Grundimpuls mit kritischer Empathie auf die Spur zu kommen.

Es gebe wenige Autoren, schreibt er, die ihr Leben so radikal nach ihrer Berufung ausgerichtet hätten. Der Literatur ordnet Handke alles andere unter. Die Radikalität erzeugt eine Form von Rücksichtslosigkeit, die sich nicht nur gegen ihn selbst richtet, sondern auch gegen seine Freunde und Geliebten. Sie kommen in Herwigs Biografie reichlich zu Wort, sprechen voller Bewunderung über den auserkorenen Dichter und voller Angst von seinem „heiligen Zorn“. Zu der Rücksichtslosigkeit gehört aber ebenso das ständige Hinterfragen des eigenen Schreibens. Und der Hass auf die realen und imaginierten Väter, der kaum zu trennen ist vom fortwährenden Versuch, deren Aufmerksamkeit zu erlangen – nicht zuletzt bei seinem Auftritt bei der Gruppe 47 in Princeton 1966, als der junge Handke den gestandenen Autoren „Beschreibungsimpotenz“ vorwarf.

„Jetzt bist du heraus aus diesem expressiven Strudel. Das ist ein ruhiger Satz, der zugleich zittert“, zitiert Herwig eine Notiz des Grazer Jurastudenten Handke und markiert damit auch die eigentliche Geburt des Autors noch lange vor der ersten Veröffentlichung. Ruhige Sätze, die zugleich zittern – das ist fortan das Ziel des Schreibens. Der ehemalige Spiegel-Redakteur und Literaturwissenschaftler Herwig zeichnet die Schreibbewegungen Handkes nach, und er setzt sie zu den persönlichen Erfahrungen und Lebenskrisen in Beziehung. Es sind keine neuen Erkenntnisse, die Herwig präsentiert, und sein flotter Stil hat auf Dauer etwas Nervtötendes. Aber er bündelt geschickt und verknüpft (zuweilen etwas kurzschlüssig) die erzählerische mit der Lebenswelt Peter Handkes.

Dafür hat der Autor seinem Biografen Zugang zu Briefen, Familiendokumenten und Tagebüchern gewährt. Am spannendsten ist die bislang unveröffentlichte Korrespondenz des jungen Handke mit dem leiblichen Vater. Die Briefe sind von einem für Handke ungewöhnlichen Sehnen nach Nähe geprägt; sie sind ein einziges Werben um die Gunst dieser „Sparkassenexistenz“. Und gleichzeitig wissen sie um die unüberbrückbare Distanz. Dieser Widerspruch des „schwermütigen Spielers“ – der Wunsch nach Übereinkunft und der Rückzug in die tiefste Einsamkeit – bildet ein Grundmuster in der Biografie Handkes.

Herwig deutet dieses Hin-und-her-gerissen-Sein aus der Zerrissenheit der frühen Jahre. Handke wird 1942 in dem kleinen Ort Griffen in Kärnten als Sohn von Maria Siutz und des deutschen Wehrmachtsoffiziers Erich Schönemann geboren. Noch im selben Jahr heiratet die Mutter den Unteroffizier Bruno Handke. Die Kindheit verbringt er teils in Berlin, wo ihm der Schrecken des Kriegs eingeimpft wird, größtenteils aber in Kärnten. Das plötzliche Versetztwerden von einer Welt in eine völlig andere mag Handkes Sehnsucht nach Schwellenorten erklären. Slowenien, das Land der Ahnen mütterlicherseits, spielt dabei als idealisierter Ort eine bedeutende Rolle. „Je älter Handke wird, desto intensiver beschäftigen ihn die Vorfahren. Je länger sie tot sind, desto lebendiger werden sie in seinem Werk: anschreiben gegen den Tod, gegen Krieg und Zerstörung“, so Herwig.

Nicht zuletzt seine Jugoslawientexte in den neunziger Jahren sind ein Nachhall dieser frühen Kindheitserinnerungen. Und ganz lebendig sind sie in Handkes neuem Buch, das zwischen Theaterstück und Prosa oszilliert: „Immer noch Sturm“ ist wie häufig bei Handke ein Buch der Schwebe, eine Abfolge märchenhafter Szenen. Das Erzähler-Ich findet sich auf dem Jaunfeld in Südkärnten, eine mit dem Tau der Erinnerung behaftete Steppe. Die Zeit ist die des Vorkriegs und des Kriegs, und doch ist sie auch aufgehoben in der Unbestimmtheit, mit der das Gedächtnis seine Arbeit tut.

Immer wieder schiebt sich in die Gedanken des Erzählers ein „oder wo“ und „oder wann“, so als sei nichts gewiss und alles eine Täuschung. Die Mutter, die Großeltern, die Geschwister der Mutter erscheinen ihm, beginnen durcheinanderzureden, beanspruchen ihre Geschichte und wandeln einher, als seien sie von den Toten auferstanden. Der an der Ostfront gefallene Onkel Gregor, der für viele Figuren in Handkes Büchern Namensgeber war, wird im Stück zum Partisanen, der im österreichisch-slowenischen Grenzgebiet gegen die Deutschen kämpft. So verschwimmen Erinnerungen und Wunschbilder. Der Umriss der Verblichenen, heißt es einmal, sei viel stärker und dauerhafter als der der Heutigen. „Immer noch Sturm“ ist ein wunderbares poetisches Denkmal; kein statisches allerdings: Es endet in einem Totentanz und einem Gesang, der nicht mehr im Takt des althergebrachten Weltverdruss-Walzers der Familie, sondern im Rhythmus einer Polka aufgeführt wird.

In den Tag hinüberwachsen

Und was ist, wenn der Traum sich auflöst, die Schemen der Ahnen verblassen? Was geschieht in jenen Sekunden zwischen Schlaf und Erwachen, wenn die Wirklichkeit noch keine rechte Oberhand gewinnt über die Fantasien der Nacht? Dann bilden sich – zumindest beim Dichter Peter Handke – eigentümliche Sätze: keine Traumprotokolle, sondern Augenaufschlagsnotate.

Ein Jahr lang hat Handke dieses Experiment des Schöpfens aus dem Unbewussten, das an surrealistische Textstrategien erinnert, unternommen und unter dem Titel „Ein Jahr aus der Nacht gesprochen“ veröffentlicht. Ganz locker sind diese Dialogfetzen, Aphorismen und albern-sinnfreien Notizen über das Buch verteilt. Zwei Drittel jeder Seite bleiben unbedruckt, als müssten die Sätze viel Raum haben, um sich auszubreiten und in den Tag hinüberwachsen zu können. Jede Notiz ist ein neuer Morgen, der auf eine rätselhafte Nacht schließen lässt.

Warum Malte Herwig für seine Biografie den Titel „Meister der Dämmerung“ gewählt hat, hier wird es offenkundig. Peter Handkes Literatur entsteht in einem Dämmerlicht; sie ist aus dem Halbschlaf geboren. Sie verlangt freilich auch von den Lesern, dass sie sich mit ihm in dieses Traumreich begeben, das langsam von Tageslicht beschienen wird. Und dass sie dieses Zwielicht ertragen, in das bei Handke Literatur und Leben gehüllt sind.

■ Malte Herwig: „Meister der Dämmerung“. DVA, München 2010, 364 Seiten, 22,99 Euro ■ Peter Handke: „Immer noch Sturm“. Suhrkamp, Berlin 2010, 166 Seiten, 15,90 Euro ■ Peter Handke: „Ein Jahr aus der Nacht gesprochen“. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2010, 215 Seiten, 20 Euro