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Archiv-Artikel

Was Filme über ihr Publikum verraten

„Sagst du mir, was du siehst, sage ich dir, wer du bist.“ Stimmt das? Wir haben versucht, uns auf vier Menschen einen Reim zu machen, die wir vor der Videothek angesprochen haben. Würden allein ihr Aussehen und ihre Ausleihlisten genügen, um die Versuchspersonen treffend einzuschätzen? Sollte man meinen. Was von unseren Vermutungen übrig blieb, erfuhren wir im zweiten Schritt unseres Experiments – der Begegnung in der RealitätVON KIRSTEN REINHARDT

Der Independent-Typ trägt Bart und Mütze, wird wohl bald 40 und leiht sich laut Liste „Swimming Pool“, „Guy X“, „Melissa P.“, „Das große Fressen“ und „A Woman Under the Influence“ an einem einzigen Tag aus. Was wir daraus folgern? Wer dabei nicht verrückt wird, der muss schon ein bisschen verrückt sein. Optisch erinnert er an Birol Ünel aus „Gegen die Wand“. Ins Kino geht so einer nur ungern. Wegen der Menschen, die so nah sitzen und an den falschen Stellen lachen. Perfekt ist seine Mischung aus Klassikern („Das große Fressen“, „Chinatown“) und jungen Fantasten (Vincent Gallo, Wes Anderson). Stilvoll mit einem Hang zum Ungewöhnlichen: Shinji Aoyamas „Eureka“ hat er gesehen und „Y tu Mamá tambien“. Wären da nicht Titel wie: „Scary Movie 3“ und „Natürlich Blond 2“. Was da wohl los war? Eine kleine Depression vielleicht? Ebenso rätselhaft sind drei Trickfilm-Februartage mit „Das große Krabbeln“ und „Toy Story 1–2“. Kinderbesuch?

So kann man sich täuschen: Barak, 39, kommt aus Tel Aviv. Er ist Fotograf und lebt mit seiner Freundin in Charlottenburg. Filme sind für ihn Inspiration und Leidenschaft: „Ich sehe alles, worauf ich Lust habe. Ich nehme keinen Godard mit, bloß weil man Godard gesehen haben muss.“ Er selbst guckt gern staffelweise Serien: „Das ist eine Session, ein Trip. Wie LSD.“

Barak ist gern zu Hause, dort arbeitet er auch. Ausgehen? Nein, nicht mehr so oft. Im Hebräischen gibt es dafür ein Sprichwort: „Den Film habe ich schon zweimal gesehen.“

Im Gegensatz zu seinem fiktiven Alter Ego fällt ihm die Wahl zwischen Film und Realität sehr leicht: „Lieber Leben“. Verrückt? Ist er nicht.

Der Sex-and-the-City-Typ ist Mitte 20, weiblich, das dunkle Haar zu einem Zopf gebunden. Was wir daraus folgern? Im Februar ging es ihr nicht gut. Sie hat sich die letzte Staffel „Sex and the City“ angesehen und am nächsten Tag, angewidert von vierfachen Happy End, „Gegen die Wand“ und „Das weiße Rauschen“. Sie muss ein Faible für schwierige Charaktere haben, dass sie das durchhält – und für die schillernden Seiten von Psychopathen. Daher „Stadt als Beute“ und „Requiem for a Dream“. Sie verliebt sich grundsätzlich in komplizierte Männer. Typen wie Kinski oder Gyu Pierce in „Memento“. Filme sind für sie Stimmungsverstärker und Geistesnahrung: „Inside Deep Throat“ (kultureller Diskurs), „Mr. & Mrs. Smith“ (Feel-good-Faktor), „Raus aus Amal“ (hochgelobt!) und „Easy Riders, Raging Bulls“.

So kann man sich täuschen: Amy, 27, kommt aus Texas und ist tatsächlich frisch diplomierte Mediengestalterin: „Das mit den schwierigen Männern kann man so sagen“, gibt sie zu. Als sie sich von ihren Freund getrennt hatte, verbrachte sie ein „Sex and the City“-Wochenende auf dem Sofa. Das Ende fand sie tatsächlich blöd, eine „Frauen-Rescue-Fantasy“. Volltreffer! Amy ist 2001 zum Studium an der UdK nach Berlin gekommen. Aufgewachsen in einer Kultur, in der schon zum Frühstück der Fernseher läuft, sind Filme für sie angenehmes Hintergrundrauschen. Seichte amerikanische Komödien sieht sie beim Kochen und Aufräumen – und zum Abschalten: „Das ist das Problem von vielen Menschen, die keinen richtigen Beruf haben, sondern immer kreativ sein müssen. Sie können nicht abschalten.“ Wie im Leben gibt’s auch in der Videothek kein langes Rumstehen. „Gute“ Filme sieht sie gezielt für die filmische Bildung oder die eigene Arbeit: „Sans Soleil“ und „La Jetée“ etwa wegen der Montagetechnik. Ihre Abschlussarbeit an der UdK war auch ein Film.

Der Angelina-Jolie-Typ ist eine Frau, Mitte bis Ende 30, zierlich, mit roten Converse, und eben hat sie sich „Tomb Raider“ ausgeliehen. Sie lacht viel, das verraten die feinen Linien in ihrem Gesicht. Was wir daraus folgern? Sie fühlt sich wahrscheinlich nicht älter als damals, als sie mit 19 nach Westberlin kam. Wegen des wilden Lebens. Sie könnte eine Ausbildung im sozialen Bereich gemacht haben, heute arbeitet sie vielleicht mit Jugendlichen. Beim Videogucken geht es ihr einfach um Spaß: ein bisschen Action, ein bisschen Liebe. Was immer neu ist, das leiht sie aus: „Der rosarote Panther“ oder „Mission Impossible 3“. Wenn die Arbeit anstrengt, Filme wie „In den Schuhen meiner Schwester“ oder „Verliebt in eine Hexe“. Manchmal durchsumpft sie Nächte mit ihrem Freund und „Counter Strike“. Ihr Freund steht auf Horror. Sie fand „Wächter der Nacht“ und „Dark Water“ auch ganz gut. Nur „Saw 2“ war ein bisschen blutig. Dann fragt sie sich, was in ihrem Freund so vorgeht – und leiht beim nächsten Mal „Per Anhalter durch die Galaxis“.

So kann man sich täuschen: Unsere Versuchsperson heißt Anushka, 39. Berlinerin, „Info-Suse“ und Organisatorin in einem Hostel: „Ich habe nichts fertig gelernt, aber schon alles gemacht“, sagt sie. „Alles“, das ist: Kochen für Bands im Huxley’s oder als Freundin des T-Shirt-Verkäufers mit den Ärzten touren, vor „Westerland“. Jetzt hat sie ihren Platz gefunden, hinter der Rezeption in einem Hostel in Berlins Mitte. Anushka redet wie ein Wasserfall, „schon als Kind lief ich auf ‚45‘ “ spielt sie auf Vinyl an. Arbeit im sozialen Bereich? Gar nicht so falsch: „Rock-’n’-Roll-Bands verhalten sich oft wie Kindergartenkinder“. Einmal im Monat wird ein riesiger Schokoeisbecher vernichtet, abgerundet von einem Film mit Kate Hudson oder Angelina Jolie: „Ich bin eine Mainstream-Guckerin.“ Aber Seichtes ist die beste Entspannung nach der Arbeit. Die PC-Spiele und Horrorfilme gehen auf das Konto ihres Freundes, von denen kriegt sie gar nichts mit. Sie bevorzugt Miss Marple und Konzertmitschnitte und steht auf Actionfilme, die ihr Freund als Männerfilme bezeichnet. „Aber ‚Tomb Raider‘, das ist doch kein Männerfilm!“

Der Woody-Allen-Typ sieht wohl überall auf der Welt gleich aus: Mann, Ende 30. Äußerst rechteckige Hornbrille und kurz gestutztes Haar Seit drei Jahren leiht er in seiner Videothek aus, 35 Filme insgesamt. Was wir daraus folgern? Nicht, dass er sich nicht für Filme interessiert, dagegen spricht die Auswahl. Wir tippen aber darauf, dass so jemand lieber ins Kino geht. Das ist kommunikativer und hat weniger den Ruch von „auf dem Sofa abhängen“. Seine Brille verleiht ihm etwas Seriöses und Humorvolles zugleich – wahrscheinlich liest er die FAZ wegen des Feuilletons und lacht sich schlapp über die Strizz-Comics. Mitglied in der Videothek wurde er wohl, um seine Freundin mit „Moderne Zeiten“ rumzukriegen. Hat geklappt, jede Wette. Beide könnten als Architekten arbeiten, und abends holen sie sich gemeinsam einen Film. Einen Klassiker oder einen, den sie im Kino verpasst haben. Mal darf er bestimmen: Doris Dörries „Nackt“, „Ehemänner und Ehefrauen“ und „Harry und Sally“. Mal sie: „Die Faust im Nacken“, „Wie ein wilder Stier“ und „Gangs of New York“. Da freut er sich.

So kann man sich täuschen: Unser „Architekt“ heißt Aglet, ist 42 – und Drehbuchautor, was auf Anhieb all unsere schönen Spekulationen über den Haufen wirft: „80 Prozent der Filme habe ich aus beruflichen Gründen gesehen.“ Der studierte Opernregisseur schreibt Drehbücher fürs Fernsehen und hat ein Faible für abgründigen Witz: FAZ und Strizz? Weit gefehlt! Seriös und humorvoll aber wirkt er in der Tat. Sein Lieblingsfilm ist „Ehemänner und Ehefrauen“, den hat er zuletzt mit seinem 12-jährigen Sohn gesehen, der bei der Mutter wohnt. „Harry und Sally“ war Inspiration für eine Serie, die Aglet mitkonzipiert hat: In „Schmetterlinge im Bauch“ verlieben sich auch beste Freunde. Und ein General aus „Full Metal Jacket“ war Vorbild für eine Figur bei „Stromberg“.