: Sehnsucht nach Leidenschaft
TANGO In „milonga“ stellt der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui den Tango Argentino wie ein funkelndes Schmuckstück aus. Virtuoser Start des Festivals Movimentos in Wolfsburg
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
In Actionfilmen gibt es manchmal eine Szene, wo er und sie in letzter Minute gemeinsam eine Bombe entschärfen. Großaufnahmen von Schweißtropfen, von zitternden Händen und von Blicken der Verständigung erzeugen einen Moment höchster Intensität, intim, spannungsgeladen, konzentriert.
Von ähnlicher Konzentration und Intimität vibriert die Beziehung zwischen den Partnern im Tango. Man kann diesen Tanz in seiner Suche nach Übereinstimmung zweier Körper und seiner Zelebrierung der Leidenschaft fast als eine Art von öffentlichem Sex begreifen. Die Bewegungsimpulse des Führenden, die ausschließlich durch Körperdruck und Gewichtsverlagerung mitgeteilt werden, aufzunehmen und in Bewegungen zu übersetzen, die wie ein hochkomplexer Mechanismus ineinandergreifen, macht die hohe Kunst der Tangoschule aus.
Aber anders als bei den Szenen im Film, die sich mit dem Auge der Kamera mitten in den intimen Diskurs versetzen können, bildet das Tangopaar für den Zuschauenden immer schon eine sich im Einklang bewegende Einheit, deren Perfektion er zwar bewundern kann, nicht aber verfolgen, wie das Spiel aus im Augenblick getroffenen Entscheidungen entsteht. Das macht es nicht einfach, Tango für die Bühne zu inszenieren.
Mit zehn Virtuosen des argentinischen Tangos und einem Paar zeitgenössischer Tänzer hat der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui das Stück „milonga“ entwickelt, mit dem am Wochenende das Festival Movimentos in Wolfsburg begann. Cherkaoui ist fasziniert von Komplexität, mit der im Tango die Beziehung zwischen den Tanzenden gestaltet wird. Und das stellt er in seinem Stück wie in einer Vitrine aus, eine funkelnde, staunenswerte Kostbarkeit, ausgeführt in höchster Professionalität.
Dem Gewinner zugeschaut
Deshalb fühlt man sich als Zuschauer manchmal, als hätte man gerade dem Gewinner beim Eiskunstlauf zugesehen. Begeistert beklatscht man die einzelnen Nummern – und vermisst doch mit der Zeit, dass diese Kunst auch etwas vom Dreck der Straßen und Häfen, der kleinen Kneipen und abgenutzten Parks transportiert, die doch auch Schauplatz des Tangos sind. Er ist nämlich immer noch, und das unterscheidet ihn von so vielen anderen Sprachen des Tanzes, eine gelebte, alltägliche Praxis.
Der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui weiß das natürlich, grade das macht ja einen Teil des Faszinosums Tango aus. Er versucht in „milonga“ ja auch, diese Alltagswelt über Filmbilder hereinzuholen. Dort sieht man auch die alten Paare tanzen oder Kleine und Dicke. Man bekommt sehr schnell eine Ahnung davon, dass in diesem Tanz im Alltag viel mehr Raum für Diversivität ist, als die Virtuosen auf der Bühne vermitteln. Sie verfügen vielleicht über den größten Wortschatz in dieser Sprache der akzentuierten Schritte, der plötzlichen Wendungen und sich verhakelnden und wieder lösenden Unterschenkel. Aber dass auch dort, wo das Vokabular geringer ist, die Lust nicht nachlässt, immer wieder aufs Neue das Spiel zu inszenieren, macht den Tango eben auch aus.
Vermutlich würde diese Tangoschau, für die auch ein kleines Orchester auf der Bühne steht, dieses Verlangen nach mehr nicht erzeugen, wäre sie nicht von einem Choreografen, der seit seinen ersten gefeierten Stücken vor zehn Jahren eben gerade auch für das Spiel mit dem Hybriden steht, das Driften zwischen Zeiten und Räumen, die Metamorphosen zwischen den Tanzsprachen. Man liebt diesen Choreografen eben auch für seine Fähigkeit, neue Verbindungen zwischen verschiedenen kulturellen Codes auszuprobieren und zu entwickeln.
Seine Handschrift wird in „milonga“ auch in einigen wunderbaren Passagen erkennbar, wenn etwa die Paarkonstellationen sich auflösen, Trios und größere Ensemblefiguren entstehen oder das Spiel der Unterschenkel, die im Tango so schnell die Richtung wechseln, einmal in Gesten der Arme übertragen wird.
Doch solche Momente, solche Übergänge zwischen Tango Argentino und zeitgenössischem Tanz, sind selten in „milonga“. Denn meistens bleibt die Paarkonstellation unangetastet, blüht auf in der vollen Inszenierung ihrer Leidenschaft. Das ist etwas pathetisch auf die Dauer auch deshalb, weil es kaum einen Blick gibt auf die mögliche Differenz zwischen dem Bild, das der Tanzende von sich inszeniert, und seiner Sehnsucht nach diesem Bild.