Volksküche International

SOZIALES PROJEKT Einmal im Monat kochen junge Berliner aus aller Welt für Heimat- und Obdachlose. Dabei zeigt sich: Es ist nicht nur die Sprachbarriere, die trennt

„Letztes Mal waren mehr von uns da. Heute ist es einfach nicht kalt genug“

HAJO, OBDACHLOSER

VON ALEXANDRA ROJKOV

Die Speisekarte klingt, als gehöre sie zu einem Fünfsternerestaurant: Als Entrée empfiehlt der Küchenchef eine Ingwer-Kürbissuppe, als Hauptspeise Weißkohleintopf mit Kichererbsen und zum Dessert Crêpes mit Haselnusscreme. Nur nach dem Preis sucht man auf dieser Karte vergeblich. Denn die Gäste könnten ein solches Menü nicht bezahlen: Sie sind obdachlos. Auch die Köche sind keine Profis, sondern junge Migranten. Einmal im Monat geben sie ein vegetarisches Dinner für Bedürftige. Doch essen allein verbindet nicht.

Samstagabend, 18 Uhr. Die Scheibe eines Kreuzberger Gemeindezentrums ist beschlagen, an der Tür klebt ein unauffälliges Blatt Papier: „Vegetarian Dinner – here“. Durch die Eingangtür gelang man direkt in die Küche; dort liegt der Duft von Curry und Ingwer in der Luft, auf dem Herd dampft es aus großen Messingtöpfen. „Who wants to try?“ Dario Adamic, in der Hand einen Kochlöffel, bekommt keine Antwort. Seine Helfer sind beschäftig: Zehn junge Berliner aus ebenso vielen Ländern schneiden Gemüse, schälen Kartoffeln oder decken den Tisch. Adamic fischt einen Löffel Weißkohl aus dem Eintopf, pustet kurz: „Perfect.“

Studis, Künstler, Musiker

Das Treffen zwischen Berlins jungen Zuwanderern und seinen Obdachlosen ist Adamics Projekt. Er ist Englischlehrer und kommt aus Bulgarien, seit einem Jahr lebt er in Kreuzberg. Adamic spricht kaum Deutsch, dafür fließend Italienisch. Zu seinem Freundeskreis zählen internationale Studenten, Künstler und Musiker. Eines Abends drehten sich ihre Gespräche um Bedürftige und wie man sie integrieren könnte. „Wir haben ja kaum Berührungspunkte“, sagt Adamic, „Also dachten wir: Lasst uns für sie kochen!“ Sie fragten bei Obdachlosenheimen an und erzählten befreundeten Sozialarbeitern von der Idee. Das erste Abendessen im Februar fand noch in einer Wohnung statt. Zum zweiten, so Adamic, kamen fast 60 Personen.

Für das Dinner an diesem Abend haben sie einen Saal in Kreuzberg gemietet. Im vorderen Teil wird gekocht, einen Raum weiter gegessen. Bierbänke dienen als Tafel, Geschirr und Besteck stellt der Vermieter. Kurz vor Eröffnung wuseln die Organisatoren umher, drapieren Servietten und Menükarten. An der Bar gibt es Saft, Kaffee und Tee.

Die ersten Obdachlosen kommen gegen 19 Uhr. Vereinzelt betreten Männer den Raum, blicken sich scheu um, bevor sie Platz nehmen. Ihre dunklen Mäntel behalten sie an. So wie Hajo, der eigentlich gar nichts erzählen will, von sich und seinem Leben. Er könnte Adamics Großvater sein: Hajos Haare sind grau und strähnig, wenn er spricht, blitzen Zahnlücken auf. Er wählt eine Bank nah bei der Tür.

Die Obdachlosen wissen von dem Essen durch Plakate in Suppenküchen – die jungen Migranten hingegen aus Couchsurfing, einem sozialen Netzwerk für junge Reisende. Adamic hat den Event dort beworben; 29 Personen stehen am Abend auf der Gästeliste. Studenten, Reisende, Lebenskünstler drängen sich im Gang. Spanische und englische Wortfetzen hallen durch den Raum, ein Holländer mit blonden Locken verteilt „Free Hugs“, kostenlose Umarmungen. Hajo sitzt daneben und wartet. Erst als das Essen näher rückt, setzt sich jemand an seinen Tisch. Nicole – Jeans, T-Shirt, Kurzhaarfrisur – nimmt ihm gegenüber Platz. Die 30-Jährige hat gerade ihr Studium in den USA beendet und spricht kein Deutsch, Hajo nur gebrochen Englisch. Bis zur Vorspeise schweigen sie sich an.

Die Kellnerin bringt die Suppe. Ein pikanter Geruch steigt aus dem Teller, Korianderblätter schwimmen in der orangefarbenen Consommé. Nicole nimmt verhalten einen Löffel, denkt kurz nach und legt ihn dann wieder weg. „Ich bin nicht sicher, ob ich das mag“, sagt sie. „Kennst du den Suppenkasper?“, fragt Hajo vorsichtig auf Deutsch. Dann singt er mit schauriger Stimme: „Ich esse keine Suppe! Nein! Nein, meine Suppe ess ich nicht.“ Hajo zeigt auf ihren Teller. Erst sieht Nicole ihn erschrocken an. Dann beginnt sie zu lachen und Hajo lacht leise mit. Er bemüht sich, baut englische Worte aneinander. Zögerlich sprechen sie über Berlin und über Prag, wo Nicole ein Jahr gelebt hat. Niemand fragt nach Hajos Vergangenheit. Hajos Zahnlücken, die glasigen Augen – sie bleiben ein Rätsel.

Der Hauptgang wird gereicht. Alle Tische sind belegt, doch unter den rund 40 Gästen sind kaum Obdachlose. Die jungen Berliner scheint das nicht zu stören: Sie löffeln fröhlich den Eintopf und plaudern an der Bar. Hajo sieht sich um. „Letztes Mal waren mehr von uns da“, stellt er fest, „heute ist es einfach nicht kalt genug.“ Vielleicht, fügt er dann hinzu, sei auch die Sprachbarriere schuld. „Einige haben sich geschämt. Weil sie doch kein Englisch können.“ Nicole hat auch diesen Gang nicht aufgegessen, der Teller ist noch halbvoll. Hajo nimmt ihn dankbar.

Große Nachfrage

Das Essen in Kreuzberg ist die fünfte Veranstaltung dieser Art. Wegen der großen Nachfrage, erzählt Adamic, würde das Dinner professioneller organisiert: Ein Restaurant steuert Lebensmittel bei, ein Café die Getränke. Um Spenden wird trotzdem gebeten; beim letzten Termin im August seien fast 500 Euro zusammengekommen. Sie flossen in ein soziales Projekt – ebenfalls für Obdachlose. „Uns geht es ja nicht nur ums Essen“, sagt Adamic, „sondern um Nachhaltigkeit. Darum, Menschen zusammenzubringen.“

Das Dinner endet gegen Mitternacht. Etwa 20 Personen lassen den Abend gemütlich ausklingen: einige Spanier sind darunter, ein paar aus dem Organisationsteam. Die wenigen Obdachlosen sind schon lange gegangen. Auch Hajo hat sich nach dem Dessert schnell verabschiedet.

■ Das nächste „Homeless Veggie Dinner“ findet am Samstag in der Admiralstraße 17 in Kreuzberg statt. Beginn ist 19 Uhr. Das Essen ist kostenlos, um Spenden wird gebeten.