Die Angst vor dem Ende des Aufstands

Kampf der Frauen um Macht und Männer: Nicolas Stemann hat Elfriede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“ am Thalia Theater Hamburg inszeniert

von SIMONE KAEMPF

Die alten Bilder werden überschrieben. Die, die Geschichtsmythos sind und gleichzeitig den Blick versperren. Die Fahndungsfotos der RAF-Mitglieder zum Beispiel mit diesem großen Wiederkennungswert für die Nachgeborenen. Der Vorhang des Thalia Theaters, auf den zur Uraufführung von „Ulrike Maria Stuart“ riesengroß eines der bekannten Meinhof-Foto projiziert ist, fällt und offenbart eine Leinwand in Cinemascope-Format. Der kurze Trailer, der jetzt läuft, heißt „Untergang 2. Die letzten Tage von Stammheim“. Zwei Frauen sind zu sehen, die eine, Gudrun, präsentiert sich als ein Tatmensch, die andere, Ulrike, als Intellektuelle. Man wird sie noch privater erleben, nach diesem medialen Prolog, den Regisseur Nicolas Stemann geschickt einsetzt, um neue Deutungsräume zu öffnen: für die 68er-Rebellion als Geschlechterkampf um Macht und Männer.

Elfriede Jelinek hat für ihr neues Stück Schillers Drama „Maria Stuart“ als Grundlage genommen, in dem die beiden Königinnen Maria Stuart und Elisabeth um einen Mann kämpfen wie um eine neue politische Ordnung. Der Konstellation fügt sie weitere Figuren zu: Gudrun und Ulrike, Engel der Geschichte, einen Chor der Greise und einen der jungen Prinzen.

Doch die jungen Prinzen, gewissermaßen die Jugend von heute, wollen nicht auf diese Bühne. Schon bei ihrem ersten, erzwungenen Auftritt formulieren sie fast so etwas wie Neid auf die einfache Welt von damals: „Ach, wie gerne hätten wir die repressiven ideologischen Apparate selber noch erlebt.“ Der Schaum des Hasses quillt ihnen aus dem Mund, wenn sie die Herzog-Rede vom Deutschland-Ruck mit dem Satz beenden: „Es darf geschossen werden.“ Und dann erschrocken zurückzucken.

Stemann hat Jelineks Aufforderung sehr wörtlich genommen, dass die Figuren sich immer wieder selbst zurückreißen. Wo das nicht ausreicht, karikiert er ihr Tun ironisch. Wenn die beiden Frauen endlich mal den Mund halten sollen, wie Alt-Macho Andy verlangt, dann schlüpfen sie in große Stoffvulvas, um dort in Ruhe von sich zu reden und ihr feministisches Leid zu klagen.

Solche Szenen waren es, über die Ulrike Meinhofs Tochter Bettina Röhl in Rage geriet, als sie im Sommer eine öffentliche Probe besuchte. Sie forderte vom Theater Textänderungen wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte und sah auch noch eine Verherrlichung des RAF-Terrorismus. Als man nicht mehr miteinander reden konnte, sprachen die Anwälte. In die Öffentlichkeit sickerte nur wenig durch, aber genug, um die Streitigkeiten zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht hochzukochen.

Angesichts dieses Vorspiels hätte man sich nicht gewundert, wäre es während der Premiere zu einem kleinen Tumult im Zuschauerraum gekommen. Vorsorglich hat ihn Stemann selbst inszeniert. Drei der Schauspieler, nackt bis auf eine Schweinsmaske, verteilen Wasserbomben ans Publikum, mit denen man auf die Pappfiguren von Gerhard Schröder, Kai Dieckmann, Johannes B. Kerner und Josef Ackermann schießen darf. „Wir legen uns hier so lange hin, bis die Scheiße aufhört“, sagt einer der drei und legt sich wie tot hin.

In einer der nachhaltigsten Szenen des Abends schieben sich die zombiehaften RAF-Veteranen mit Rollwagen und Krückstöcken auf die Bühne. Älter sind sie geworden, aber nicht weniger kampfbereit. Die Frauen umranken als Bond-Girls den Mann in ihrer Mitte, der lässig mit dem Revolver spielt, während die Jungen sich zu den Krückstöcken retten. Das Bild will eine Urangst der 68er treffen: zu scheitern, weil niemand den Aufstand fortsetzen will. Der Widerstand muss weitergehen. Auch die nächste Generation darf sich nicht alles gefallen lassen. Aber was, wenn sie lieber den „Untergang“ als Blockbuster gucken will, statt selbst zu handeln?

Bei all dem ist der Abend aber auch witzig, intelligent und zumindest im ersten Teil ein dicht gestricktes Assoziationsspielfeld. Eine Mischung aus Fernsehrevue und Castingshow, in der Judith Rosmair als Gudrun und Susanne Wolff als Ulrike ihre Liedauftritte kriegen. Die eine singt von schönen Klamotten, denen sie nicht widerstehen kann; die andere von der Aufopferung für die Revolution. Und wie sie das quält, lässt einen bei allem Klamauk nicht kalt.

Ulrike erhängt sich. Als Untote spukt sie in einer alten Barockrobe der Maria Stuart über die Bühne, wirbt darum, dass man jetzt zumindest ihre Bücher liest. Schiller würde sagen, der Körper ist dein Verführer. Heute antwortet Ulrike Maria Stuart, es ist der Geist, der dich verführbar macht.